Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 731
Text
die Wünsche des reich gewordenen Speculanten mit den schön gefärbten
nackten Frauen, die Jener liebt, weil er sie kennt oder kennen möchte.
Die beiden Salons recrutiren ihre Werke aus diesen Schichten,
und es ist ein seltenes, aber deshalb umso freudigeres Ereigniss, trifft
man Werke wie diejenigen, denen ich jetzt einige Zeilen in Bewunde-
rung widmen will.
Eine der interessantesten Erscheinungen der Pariser Malerwelt ist
Eugène Carrière, er hat eine eigene Sehweise, eine gesonderte Welt
der Farbe und wohl auch der Empfindung.
Seine Gestalten zerfliessen und gewinnen wieder Form wie Schatten,
die durch Nebel huschend plötzlich als Wesen von Fleisch und Blut
vor uns stehen.
Carrière ist einer der wenigen Grossen, welche im Salon des
Champs de Mars nie fehlen; sein diesjähriges Bild: »Christus am Kreuze
mit Maria« macht nicht den mächtigen, unverlöschlichen Eindruck wie
seine Werke im Musée de Luxembourg, es fehlt ihm die Glaubens-
innigkeit und steigt deshalb nicht bis zu der Grösse eines völlig
runden Kunstwerkes.
Ich sagte vorhin, Carrière habe eine gesonderte Farbenwelt, ich
möchte dieselbe genauer betrachten.
Auf das, was man gewöhnlich Farbe heisst, die reinen Töne
eines Roth, Blau, Gelb u. s. w. verzichtet er vollständig, er nimmt
von ihnen nur den Schein und schafft damit ein undefinirbares Grau,
Braun und Gelb, aus welchem erst nach längerem Beschauen wie durch
Zauber rothe oder blaue Flächen auftauchen. Er steht hiemit in ge-
radem Gegensatze zu den meisten unserer Modernen, welche ihre
Harmonie durch wohl berechnete Gegensätze ungemischter Farben zu
erzielen suchen und, wie Ménard (Emile René) es besonders in seinem
»Le Troupeau« betitelten Bilde beweist, auch erreichen. Auf demselben
Wege und in gleicher Höhe treffen sich noch der Belgier (Georges)
Buysse (mit seinen hervorragend schönen Landschaften), Eugène Vidal
mit einem stumpfnasigen jungen Mädchen in Blau und ein Deutscher
(Jules) Wengel, dessen »Engel der ersten Communion« sehr eigenartig sind.
Ich müsste mit einer grossen Anzahl mehr oder minder be-
kannter Namen ermüden, wollte ich Allen gerecht werden, welche eine
Namensnennung nach gut bürgerlicher Sitte verdienen.
Ich will nur noch einigen fein empfindenden Künstlern, wie dem
mit Recht verehrten Schotten Stott of Oldham, Try Renan, (André)
Dauchey, Cazin und besonders (Armand) Berton nach altem Brauch
gerecht werden, um mich wieder auf das Gebiet allgemeiner Be-
trachtung zu begeben.
Ich wäre wirklich sehr in der Enge, sollte ich einem der beiden
Salons die Palme zuerkennen; wenn auf den elysäischen Feldern das
Episodenbild und die Akademieluft unangenehm berühren, so missfällt
auf dem Marsfeld der grosse Mangel an jeglicher künstlerischer Idee.
Leider ist diesen Künstlern von der Natur kein so starkes Empfinden
gegeben worden, dass es im Bilde geformt den Beschauer zwinge, die-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 731, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0731.html)