Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 753

Das hermetische Bergschloss (Rachilde)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 753

Text

Wiener Rundschau.


1. SEPTEMBER 1897.


DAS HERMETISCHE BERGSCHLOSS.
Von Rachilde (Paris).
Autorisirte Uebersetzung von Nina Hoffmann.

Ich habe zwei alte Frauen gekannt, welche mit den Worten ge-
storben sind: »Hier bin ich nicht zu Hause! Nicht hier ist’s, wo
ich sterben sollte!« Die eine von ihnen war eine Bäuerin aus dem Be-
zirke von Limoges. Sie war sehr arm, ein wenig verrückt, und ihre
fixe Idee bestand vornehmlich in einem unaufhörlichen Bedürfniss nach
Ortsveränderung. Sie träumte von einem Orte, wo es ihr wohler
gewesen wäre, wo sie immer hätte leben sollen, und da sie diesen
Ort nicht kannte, sie übrigens auch nicht wusste, ob er anderswo als
unter ihrem Hirnschädel existire, so wiederholte sie immer wieder
stossweise: »Ach, wie sind sie unglücklich, die keine Heimat haben!«
Sie verschied mit einer eigensinnigen Geberde, die sagen wollte: »Dort

Die andere, eine Gräfin von Beaumont-Landry, war bei vollem
Verstande, allein sie phantasirte ganze Tage lang von dem »Haus ihrer
Träume«, und dieses stellte nicht eine sentimentale Phrase ihrer Jugend-
zeit dar, es war wirklich und wahrhaftig ein irgendwo erbautes Wohn-
haus, etwa in Schweden oder Irland, in einer Gegend »von der Farbe
grauer Spitzen
«, sagte sie, und »wo die Tauben Trauer
tragen müssen
«. Sie definirte nichts, wünschte nichts. Weder Ge-
mälde, noch Stiche gaben ihr bestimmte Anhaltspunkte, aber sie wusste,
dass jenes Haus »dort« sei und dass ihr, der verwöhnten Weltdame,
jener Platz dort an dieser bescheidenen Ruhestelle vorherbestimmt war.
Als sie im Todeskampfe lag, nahm sie die Hände ihrer Tochter in
die ihren und murmelte mit unruhvoller Stimme: »Ich bin nicht hier
zu Hause, nein, hier ist es nicht, wo ich mich befinden sollte!«

Wenn es die Schwesterseele gibt, nach der man durch alle
Verirrungen und alle Verbrechen der Liebe hindurch sucht, sollte es
nicht auch das Bruderland geben, ohne das man nicht glücklich
leben, kein friedliches Lebensende finden kann?

Wie viele schwermüthige Touristen haben nicht mit trauererfüllten,
bedauernden Blicken gesagt: »Ich habe auf meinen Wanderungen den
Ort gesehen, den ich bewohnen möchte, und ich erinnere mich nun

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 753, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0753.html)