Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 754

Das hermetische Bergschloss (Rachilde)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 754

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754 RACHILDE.

nicht mehr daran, in welchem Erdenwinkel er sich befindet! Ich weiss
den Namen jenes Dorfes nicht mehr, ich sehe nicht mehr die Nuance
der Himmelsfarbe «

Wie viele berühmte Entdecker haben sich nicht jenseits der Meere
und Wüsten plötzlich zu einer geheimnissvollen Flur hingezogen
gefühlt, zu einer eigens für sie geschaffenen Heimat, von welcher sie
dann ein so verwischtes Bildniss in sich tragen, dass es ihnen als die
Erinnerung an einen alten Stahlstich erscheint, den sie in ihrer Kindheit
lange Zeit bewundert hatten.

Und es gibt verfluchte Orte, wohin man geht, weil man hingehen
muss, wo du der Wunde entgegengehst, die dir seit Jahrhunderten
bestimmt ist. Da ist der Wald, der dich von weitem reizt und lockt
und wo du dich an dem Baume aufknüpfst, den du schon anderswo
gesehen zu haben glaubst, ein Baum, welcher dir jenseits aller um-
dämmerten Fenster seine Aeste entgegengestreckt hat. Da ist der kleine,
im wilden Thalgrunde verlorene See, die grünliche, von schwarzem
Gestrüpp umwirrte Pfütze, wo hinein man sich stürzt, fast freudig,
endlich sein persönlich eigenes Grab gefunden zu haben, nicht
aber das Grab, welches dem des Nachbars gleicht. Von aller Ewigkeit
an ist wohl der Boden, auf dem unsere Füsse stehen, uns vorgezeichnet,
allein wir kommen nicht nach eigner Wahl zur Welt; unsere Eltern
bewegen sich, entfernen sich, kommen, gehen ohne Noth, suchen selbst
ihre endgiltige Wohnstätte, so dass es vielfältiger Zufälligkeiten bedarf,
um uns zu orientiren, uns die feierlich-schicksalsvolle Eingebung zu
vermitteln und uns wie auf Flügeln nach jenem Lande zu entführen,
das, sei’s in einem Saatenfelde oder einer öden Gasse, die mystischen
Wnrzeln unserer Person in sich aufbewahrt.

Oftmals auch sehen wir, verzückt nach jenem Lande hinschauend,
wie es plötzlich zurückweicht, dahin schmilzt, in nichts vergeht. Es
flieht uns, verlässt uns, und aus einer Ursache, die wir nie erfahren
werden, weil sie zu schrecklich ist, errathen wir, dass wir es nie
erreichen, dass dieses gelobte Land uns für immer entrückt bleiben wird.

Hier ist nun, was ich recht aufrichtig aus Anlass eines dieser
Länder der Chimäre erzählen will, das ich wahrhaftig auf meinen
Wegen gefunden habe.

Es war in der Franche-Comté, als ich an einem schönen, sonnigen
Tage einen grossen, etwas öden Landsitz besuchte, der in der Nähe des
Dorfes von Roquemont, im kleinen Weiler von Suse gelegen war. Wir
hatten den Gipfel eines Hügels erstiegen, den man in der Umgebung
seiner bizarren Auszahlung wegen den Dent de l’Avis benannt hat, und
wir hatten uns alle Drei auf einem rothbraunen Rasenfleck ausgestreckt,
dem ein Duft wie von verbranntem Haar entströmte. Die Mutter, Frau Téard,
der Sohn, Albert Téard; und ich, wir Alle litten unter der grossen Hitze;
wir sprachen nichts mehr, da wir Alle die banalen Pariser Geschichten
schon erschöpft hatten. Auf dieser Höhe, auf diesem Plateau, um das
die trockenen Winde fegten, war die Quelle der gewöhnlichen Gespräche
plötzlich in uns versiegt, und wir hatten nur mehr den Wunsch, das

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 754, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0754.html)