Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 751

Stucken, »Yrsa« Wassermann, »Die Juden von Zirndorf«

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 751

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NOTIZEN. 751

schlusses unfähig ist. — Die Sprache
ist mit Absicht möglichst archai-
stisch und fremdartig gestaltet,
ohne dass es aber Herrn Stucken
gelungen wäre, den richtigen Ton
anzuschlagen. Knappe, einfache
Diction, wie sie bei diesem Drama
am Platze wäre, ist eben etwas
ganz Anderes, als dieses verrenkte,
verkrüppelte Deutsch mit seinen
unglaublichen Wortzusammensetzun-
gen und grässlichen Inversionen.
Allein trotz aller Mängel ist Stucken
zweifelsohne ein begabter Mensch,
vielleicht sogar ein Dichter. Zwei
Scenen wenigstens sprechen dafür,
zwei Scenen, aus denen sich wirklich
künstlerisches Genie offenbart, die
zu dem schönsten gehören, was in
letzter Zeit geschrieben wurde. Ich
meine erstens die Scene, da Yrsa
den Brunnen um ihr Schicksal be-
fragt, und dann die Liebesscene
zwischen Eirek und Aslaug im
dritten Acte.

W. W.

Die Juden von Zirndorf.
Roman von Jacob Wasser-
mann. Paris, Leipzig, München.
Verlag von Albert Langen.
1897.

Ein Zeitbild von monumentaler
Kraft und Stärke, das eines der
schwierigsten Probleme behandelt:
das ewige Widerspiel des Juden-
thums gegen die »andere« Religion,
so wie es sich im Laufe der Jahr-
hunderte gestalten musste, in Zu-
kunft sich gestalten soll; ein Zeit-
bild, das in präcisen Strichen die
namenlosen Qualen, die geringen
Freuden des immer wandernden,
von Land zu Land, von Leid zu
Leid gepeitschten Volkes schildert,
das, gehoben durch die ererbten,
traditionellen Verheissungen, zu-
weilen mit glühenden Augen den

Kampf aufnimmt und dann un-
aufhaltsam einbricht in alle Ge-
biete Auf wenige Personen,
Insassen einer kleinen Stadt, ver-
theilt der Künstler, der dieses
wundervolle Buch geschrieben, die
Vorzüge, die Mängel aller Juden:
den unduldsamen, von Geschlecht
zu Geschlecht wachsenden Zelotis-
mus, den oft ins Extrem ver-
kehrten Familiensinn, die Geldgier,
das starre Verschliessen gegen
neue Ideen, neue Verbindungen,
das Listige und Treue, das Edle
und Verschlagene. Und doch ist
es keine Tendenzarbeit, welche
der Verfasser in die Welt sendet, nie
dass er direct pro, dass er contra
spräche. Er malt mit ruhigen,
dunklen und selten nur, im Mo-
mente der Leidenschaft, mit bi-
zarren Farben; dann aber lässt
er seiner Phantasie ganz die
Zügel schiessen: so gehört das
bacchantische, rasende Treiben im
»Siebenten Himmel«, die wider-
wärtigen, theatralischen Scenen,
welche die Verlobung oder, besser
gesagt, Verschacherung einer jüdi-
schen Adeligen begleiten, gewiss
mehr dem zuweilen überquellenden
Empfinden Wassermann’s als der
prosaischen Wirklichkeit an. Da-
gegen wächst der Dichter an manchen
Stellen über sich selbst hinaus ins
Grandiose, Bewundernswerthe: mit
der Zeichnung des alten Gedalja,
mit der Schilderung eines Masken-
balles und eines Volksaufstandes
greift der Autor mit jenem kühn-
sten Griffe ins Leben, bei dem des
Genius schützende Hand die zagen-
den Finger führt. Beängstigend
deutlich trifft das Gemälde den
grauen Zauber, die Verhängniss-
gestalt des gemordeten Sürich, der
von Anfang an wie ein Dämon

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 751, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0751.html)