Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 742

Leo Taxil und seine Puppen (Panizza, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 742

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LEO TAXIL UND SEINE PUPPEN.
Von Oscar Panizza (Zürich).

Wir sahen in den letzten Tagen das grausig-schöne Schauspiel
vorüberziehen, wie ein Schriftsteller, ein einzelner Mann, ein exaltado,
eine ganze Weltrichtung, das officielle Glaubenssystem des ganzen Abend-
landes, narrte und zum Gegenstand seines überlegenen Spottes machte.
Thränen und Trauer für die Genarrten wird Niemand haben.

Und doch hat Taxil seinen zwölfjährigen Feldzug gegen die
katholische Kirche nicht als ein Heros geführt. Er hat nicht als ein
Heros wie jener andere Schriftsteller Mr. Stead von der englischen
Pall-Mall-Gazette gekämpft, der, mit nicht minderer Schlauheit be-
gabt, in den Achtzigerjahren die Scheusslichkeiten einer Dirnen-Trafik
ohnegleichen durch jahrelange Bemühungen und in der Maske eines
Selbstinteressenten documentarisch und mit lebendem Menschenmaterial
belegt sammelte, um eines Tages die nobelty of England in ihrer
ganzen entsetzlichen Heuchelei vor ganz Europa blosszustellen. Monsieur
Leo Taxil
hat seinen Feldzug nicht als ein Held, sondern wie ein
Commis voyageur geführt.

Noch im Herbst vorigen Jahres, auf dem allzeit unvergesslichen
Antifreimaurer-Congress in Trient, konnte Taxil, wenigstens als ge-
schulter Schauspieler, sich einen guten Abgang sichern, indem er da-
mals ins Gesicht der päpstlichen Würdenträger und Cardinalvicare, die
die Gnade Gottes auf die bekehrte Diana Vaughan herabflehten, die
Maske hinwegnahm, sein Puppentheater aufzeigte und wie ein Bauch-
redner seine Schemen mit den entsetzlich erstarrten Grimassen vor
der verblüfften Versammlung stehen liess. Es wäre ein feines Schau-
spiel gewesen. So wartete er ein halbes Jahr, liess die über ihn be-
sonders in der deutschen clericalen Presse aufgetauchten Gerüchte sich
anwachsen, bis ihm die Meute auf den Fersen war. Und erst im
letzten Moment, als es schon in Schimpfworten auf ihn einhieb und er
keinen Ausweg mehr fand, riss er die Larve herunter und gestand
wie ein Verbrecher: Ja, ich bin’s! Ich bin’s gewesen! Ich hab’s
gethan!

Leo Taxil hat wie ein Geschäftsmann gehandelt. Es ist immer
schlimm, wenn ein Schriftsteller Verleger wird. Er sinkt dann im
rechnerischen Calcül und in der Scrupellosigkeit immer tiefer. Der
ältere Dumas endigte als Director einer Saucen-Fabrik. Leo Taxil
war aber von Anfang an nichts als ein Verleger. Allerdings einer, dem
eine fabelhaft geschickte Feder zur Seite stand. Vor mir liegt der
Catalogue des publications de la librairie anticléricale vom Jahre 1884.
Taxil war damals auf der Höhe seiner buchhändlerischen Unter-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 742, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0742.html)