Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 741

Die »Centenarfeier« des Grössten Gedicht (Bleibtreu, CarlSchmitz, Oscar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 741

Text

DIE »CENTENARFEIER« DES GRÖSSTEN. 741

deutung dieselbe bleiben, wenn er wirklich nur Sclave von Ichbegierden
gewesen wäre, woran die Pseudo-Nietzscheaner sich bass erbauen. Sie suchen
eben den Herrenmenschen, den sie brauchen, die Freiheit, die sie
meinen. In Vergötterung der Kraft, falls sie nicht als blosse nüchterne
Brutalität auftritt, und in Geringschätzung der Vielzuvielen — worunter
wir freilich nicht das duldende Volk, sondern die behäbige Philister-
menge verstehen — stimmen wir mit ihnen überein! Ja, dass wir unser
ganzes schlechtes Herz entdecken: wir wünschten fast, Napoleon hätte
etwas mehr der dämonischen Teufelsfratze geglichen, die man von ihm
zurechtpinselt, hätte die Menschenverachtung weniger im Munde ge-
führt und sie mehr bethätigt, wie dies heuchelnde Purpurgeborene so
viel besser verstehen. Dann würde er seine zweimalige Abdankung nicht
unterzeichnet, sondern mit Bürgschaft des Erfolges den Volkskrieg bis
aufs Messer entfesselt haben. Er that es nicht, um Frankreich zu
schonen, ihm nicht neue Wunden zu schlagen; eine andere Auslegung
dafür gibt es nicht. Kläglich dünkt uns daher der Spott über seine
Testamentswendung: »Ich will ruhen inmitten des französischen Volkes,
das ich so sehr geliebt habe.« Das war ihm heiliger Ernst, und sein
schluchzender Abschied auf dem »Northumberland« an die schwindende
Küste: »Fahrwohl, Heimat der Braven, einige Verräther weniger, und
du wärst noch die grosse Nation«, kam ihm aus innerster Seele.

(Schluss folgt.)


GEDICHT.

Weiche, Gedankenlast, von meinem Haupt
Und lass zurück in wissenlose Zeiten
Die müde Seele wie in Schlummer gleiten!
Du hast des Lebens süsse Frucht geraubt.

Heraufgestiegen ist ein klarer Mond:
Der Garten starrt in stummer Winternacht,
In weissem Lichte eine todte Pracht,
Da keine Lust und keine Trauer wohnt.

Du leuchtest in die keuschen Dämmerungen,
Feindliches Licht, wo oft ein dunkles Lied,
Das keiner sang, in stummem Werden schied
Und nur im Traume wieder angeklungen.

Ich will auf die begrünten Höhen steigen,
Des Busens ungesungenes Lied erlauschen
Und was die kühlen Abendwälder rauschen
Und was die stillen, keuschen Seelen schweigen.

Paris. Oscar A. H. Schmitz.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 741, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0741.html)