Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 740

Die »Centenarfeier« des Grössten (Bleibtreu, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 740

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740 BLEIBTREU.

mit heutigen Türken, Abessyniern und Mahdisten verwechseln, und selbst
deren Europäisirung dürfte kein Kinderspiel sein, müsste also mit
gleichem Rechte als gefährlich und unsinnig verworfen werden. Die
Franzosen des XVII. und XVIII. Jahrhunderts standen aber thatsäch-
lich an Hochcultur allen europäischen Nationen voran; ihre Sprache
und Sitte, ihre Literatur und Geselligkeit gaben seit lange überall den
Ton an, weit mehr als die hellenische im Alterthum. Zweitens aber
wollte Napoleon seine »Völker« keineswegs zu Franzosen ummodeln,
solche Absurdität kann ihm kein Vernünftiger zutrauen, sondern er kam
nur im Auftrag der französischen Revolution, um die Menschen zu
ähnlicher moderner Weltanschauung zu bekehren. Natürlich zwangsweise
wie der Islam mit dem Schwerte. Wenn damals die Worte »Heiland«
und »Messias« in Europa nur so herumflogen, um den Eindruck Na-
poleons auf intelligentere Kreise zu bezeichnen, so wird man sich dem
insoferne anbequemen müssen, als er wirklich mehr wie ein erobernder
Reformator erscheint, nicht als ein dynastischer Eroberer. Vergleiche
mit Carl dem Grossen und Cäsar, wie sie damals geläufig waren, bleiben
weitab vom Ziele, und neben Alexander wird es Muhammed sein, an
den er psychologisch anzuknüpfen wäre. Nicht unbewusst blieb ihm
selber diese Anknüpfung. Als er 1797 am Adriatischen Meere stand,
da tauchte ihm sofort das Bild Alexanders empor: auf der Balkanküste
haftete sein Blick und schweifte zum türkischen Orient. In Syrien zog
er die Alexander-Fährte und zugleich sass er, ein neuer Muhammed, auf
dem alten Kameel, den Koran in der Hand, und träumte vom Stiften eines
neuen Islam. Wie Alexander in der Oase Ammonium, wollte er der Sphinx im
Wüstensand ihr Geheimniss abfragen: »Bin ich der Sohn Jupiters?«
Diese Epoche nannte er selbst »die poetischeste meines Lebens«; be-
zeichnend, wie der Begriff des Poetischen ihm immer geläufig bleibt;
später im Cäsarenwahn wird er 1810 die Warnungen Davout’s über die
drohende Gährung in Deutschland als »Poesien« ablehnen! Denn wie
dieser bleiche, classische Kopf sich nie in Träume einspann, sondern
seine zügellose Einbildungskraft förmlich mathematisch zu regeln wusste,
das scheinbar Unmögliche fern im Auge und doch immer das nächste
Mögliche mit stählerner Faust packend — so sind ihm seine Welt-
gedanken nur gleichsam allgemeine Gravitationsgesetze, aber er schafft
wie die Natur selber, die diese höchsten Riesengesetze nur so zweck-
dienlich zu verfolgen weiss, dass sie zugleich die Wesensbedingungen
jedes Wurmes bedenkt. Das Haupt in den Sternen, die Füsse sicher
auftretend im Erdenschmutz, wandelt der Geistesriese dahin durch Re-
volutionen und Evolutionen, durch Orkane und Sonnenschein. Wie die
Natur untheilbar und immer sich gleich, so auch er: nur plumper
Unverstand schwatzt vom Sinken seiner Kraft, und mit Recht hat jüngst
Englands Generalissimus Lord Wolseley gerade die Organisationsarbeit
von 1813 seine grösste Leistung dieser Art genannt, die nur vom
Civilisten Gambetta 1870 erreicht wurde.

Man missverstehe nicht, als ob uns die »Moral« Napoleons am
Herzen läge. Theoretisch betrachtet, würde uns wahrlich seine Be-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 740, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0740.html)