Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 739
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heute noch behaupten; siehe die Ursachen von 1870. Der Kaiser der
Franzosen musste sich also dies nationale Erbtheil des politischen
Systems zu eigen machen; vor Allem aber bestimmte ihn die zweifellose
Thatsache, dass nur dort auf dem Continent das unverwundbare Eng-
land zu treffen war. Der Handel mit Spanien bildete ein Hauptabsatz-
gebiet des britischen Welthauses; ohne Sperrung dieser Häfen blieb
die Continentalsperre fruchtlos. Zur Rettung dieser Handelsniederlage
musste aber England, wie einst Karthago, nothwendig einen Continental-
krieg führen: da konnte man es fassen. Und wirklich hat der spanische
Kampf so ungeheure Opfer an Geld und Menschen für England erfordert,
dass es 1812 mürbe war und Frieden schliessen wollte, wie Talleyrand
verbürgt. Noch aber stellte es Bedingungen dabei, die für den Welt-
kaiser unannehmbar waren, und Talleyrand blamirt sich nur durch sein
Gezeter, dass sein verblendeter Gebieter nicht darauf einging.
Indem also diese Welteroberung mehr oder minder einem Muss
folgte, erscheint es thöricht und unphilosophisch, nach dem endlichen
Misserfolg ihre angebliche Unmöglichkeit zu bemessen. Wer die Ver-
hältnisse von 1812 studirt hat, weiss, dass Napoleon seinem letzten
Ziele endlich ganz nahe schien, und dass Niemand in Europa, insbe-
sondere Metternich, an seinem vollen Triumphe zweifelte. Unberechenbare
Umstände, die man vollkommen irrig als naturgemässe später auslegte,
haben das Erliegen Russlands und Spaniens gehindert; in letzterem
Lande sollte das einzige letzte Bollwerk Cadix gerade capituliren, als
der Pfuscher Josef Napoleon den Marschall Soult zwang, zur Rettung
des für Wellington gar nicht haltbaren Madrid Andalusien zu räumen.
Welch hohle Aeusserlichkeit in der Gegenüberstellung, Friedrich der
Grosse habe Preussen siegreich als feste Grossmacht hinterlassen (wieso?
siehe die Verfaulung vor 1806!) und der überspannte Corse habe nicht
mal eine Dynastie gründen können! War denn das seine »Mission«,
diese Kläglichkeit, die für das Weltganze ohne jede Bedeutung? Er war
gekommen, die Welt einheitlich kosmopolitisch zusammenzuschweissen,
die chinesischen Mauern der kleinen Nationalitäten zu durchbrechen
und so erst die Moderne, die friedliche Internationale, zu gründen.
So war im tieferen Sinne sein Streben das selbstloseste nach Absicht
und Idee, das je eben Erwählten der Geschichte geleitet hat; ob er
dabei einer persönlichen Selbstsucht folgte, die ja zur Durchführung
nöthig war, kommt für’s historische Ergebniss aufs Gleiche hinaus.
Deshalb hat man von jeher seine märchenhafte Gestalt instinctiv
mit dem Märchenprinzen des Alterthums, mit Alexander verglichen,
dessen Weltreich ja auch sofort wieder zerfiel; nachdem es seinen er-
habenen, kosmopolitischen Zweck erfüllt. Der Europäer-Grössenwahn
wirft nun zwar ein, dass Alexander nur Barbaren zu Hellenen erziehen,
nicht aber ebenbürtige Culturnationen in französisches Wesen um-
schmelzen wollte. Wieder oberflächlich gesehen! Erstens sollte man nicht
so obenhin solche Unterscheidung machen, denn das alte persische
Culturreich mit seinem Weltpostverkehr, seiner phönikischen Industrie,
seiner egyptisch-babylonischen, uralten Bildung darf man beileibe nicht
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 739, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0739.html)