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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 750

Text

NOTIZEN.

Yrsa. Eine Tragödie von
Eduard Stucken. Berlin.
S. Fischer, Verlag, 1897.

Es ist ein merkwürdiges Buch.
Nach dem ersten, oberflächlichen
Lesen da macht es einen recht
gewaltigen, kraftgenialischen Ein-
druck, als ob eine Gigantenfaust
mächtige, unbehauene Granitblöcke
regellos zu einem imposanten Bau
aufeinander gethürmt hätte. Sieht
man dann aber genauer hin, so
merkt man gar bald, dass es das
Werk eines sehr verständigen, be-
dächtigen Mannes ist, der mit
ängstlicher Mühe bestrebt war, die
Granitblöcke nur ja recht roh und
ungeschlacht auszumeisseln und sie
dann im Schweisse des Angesichtes
nur ja recht wild und regellos
übereinander zu legen, denn er
sagte sich, dass neben all den
müden, weichen Sachen heutzutage
so etwas recht gut wirken müsse.
Und er hatte nicht so unrecht,
der verständige, bedächtige Mann.
Nur etwas weniger auffallend und
absichtlich hätte er es thun
müssen. Aber das Buch besass für
mich noch eine andre Ueber-
raschung. Anfangs da konnte ich
es kaum glauben und habe mich
dagegen gewehrt und gesträubt,
aber es nützt Alles nichts, »Yrsa«
ist eine Schicksalstragödie, eine
richtige, regelrechte Schicksals-
tragödie, jetzt, da wir im Zeitalter
Nietzsche’s stehen! Alfsol, die
Tochter des Königs von Jütland,
wurde von ihren Brüdern ver-

giftet, damit sie nicht dem achtzig-
jährigen, siegreichen Sigurd Ring,
der sie zum Weib begehrte, in
die Hände falle. Sterbend sprach
sie über sein ganzes Geschlecht
einen schweren Fluch aus — sie
müssen sterben, wenn sie lieben.
In der Tragödie erfüllt sich nun
der Fluch in grässlicher Weise.
Ragnar Lodbrok, Sigurd Ring’s
Sohn, ehelicht unwissend seine
eigene Tochter Yrsa, während
deren Schwester Aslaug, natürlich
ebenfalls ohne ihr Wissen, mit dem
leiblichen Bruder Blutschande treibt.
An den beiden Letzteren erfüllt
sich zuerst der Fluch — Beide
sterben. Da erscheint der Geist
Sigurd Ring’s auf dem Gespenster-
schiffe und erklärt, dass sich der
Fluch sattgefressen, dass er durch
Enkelblut gelöst sei. Natürlich ist
dadurch, dass sich die Handlung
nicht aus den Personen, sondern
aus dem Fluch heraus entwickelt,
die Charakterisirung eine recht
oberflächliche geworden. Geradezu
komisch wirkt Ragnar Lodbrok.
Anfangs geberdet er sich ganz als
Nietzsche’scher Uebermensch, der
auf seine Art jenseits von Gut und
Böse steht, verstösst den einen
Sohn, lässt den anderen in die
Schlangengrube werfen und rühmt
im Vollgefühle seiner Kraft: »Ich
setze und entsetze, ich höhe und
erniedere, ich werthe und ent-
werthe.« Im dritten Acte aber zeigt
er sich geradezu als Schwächling,
der eines eigenen, erlösenden Ent-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 750, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0750.html)