Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 749
Text
einen Haufen verknöcherter Geister. Aber welche geistige Rührigkeit
herrscht dank der Sectirerei und dank der theologischen Schulen und
Facultäten trotzdem in dieser protestantischen Kirche! Was hat allein
die Spanne Zeit von David Friedrich Strauss bis auf Ritschl für
geistige Ansätze und kräftige Triebe gezeitigt. Und was hat nicht selbst
die kleine, rührige Gruppe der Altkatholiken seit den 25 Jahren
ihres Bestehens an geistigen Werthen rührig aus dem Boden gegraben!
Und nun daneben die katholische Kirche. Ein Ereigniss, welches —
untersuchen wir nicht, durch das Zusammentreffen welch verschiedener
Umstände auf beiden Seiten es möglich war — den Zorn und die
Schamröthe jedem Einzelnen ihrer Angehörigen ins Gesicht treiben,
den Stolz ihrer wissenschaftlichen Forschung wie die Empfindsamkeit
ihres Gemüths in gleicher Weise aufs Tiefste verletzen muss, trifft nur
auf Indifferente und Schweigsame. Welch ein Schauspiel! Von den
20 Millionen Katholiken im Deutschen Reich muss Jeder den angethanen
Schimpf als eine persönliche Kränkung empfinden und empfindet ihn
wirklich; und keiner von ihnen findet das Wort und den Muth zum
Widerpart. Keiner vermag sich zu dem Schrei aufzuraffen: Rettet uns,
rettet uns aus dieser fürchterlichen Knechtschaft! Sie Alle schlucken
die giftige Kränkung, würgen die widerliche Speise lautlos hinunter
und — schweigen
Ich kann mir nicht helfen: ich erblicke in dem von der römi-
schen Kirche gezüchteten Katholiken, so weit er ihr anhängt, eine
Lebensform, der die Nesseln der Vertheidigung verlorengegangen sind.
Gegen den kräftigen, fuchtigen, in der Herzensbildung vielleicht zurück-
stehenden, intellectuell gewappneten und kampfeslustigen Norddeutschen
ist der weichliche, süsse, schläfrige, träumerische, gemüthstiefe Süd-
länder im Nachtheil. Man braucht nur die Socialdemokratie zu be-
trachten. Diese Secte, welche den Grundton und das Credo für unsere
heutige Lebens- und Weltanschauung angegeben hat, ist eine fast rein
protestantische, zum Theil protestantisch-jüdische Bewegung. Und wenn
Döllinger Recht hat mit seinem Wort über den Amerikanismus, dass
der Unglaube den Menschen zum kalten, herzlosen Schurken mache,
so ist doch der andere Satz nicht minder wahr, dass die Ertödtung
der Verstandesthätigkeit den Tiefgläubigen im Kampfe ums Dasein
schwächt und schliesslich eliminirt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 749, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0749.html)