Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 748
Text
cléricale, Paris 1884
(680 Seiten), welche die geheimen Beichtinstruc-
tionen der französischen Diöcösen über das sechste Gebot enthalten,
dadurch zu discreditiren, dass er dieselben in seiner Bekehrungs-
schrift absichtlich entstellte Uebersetzungen aus dem
Lateini-
schen nannte (Confessions d’un ex·libre-penseur, pag. 248), ist eine
dicke Lüge, denn diese Beichtinstructionen sind, vielleicht mit Rücksicht
auf den derzeitigen Bildungsstand des französischen Clerus, im Original
französisch. Ich selbst besitze eine Originalausgabe der »Moechialogie
ou traité des péchés par J. C. Dobreyne« und kann hier constatiren,
dass der Abdruck im Taxil’schen Werk ein vollständig wortgetreuer ist.
Und nun wären wir eigentlich fertig. Wir können aber diese Be-
trachtungen nicht schliessen, ohne noch eine Frage allgemeiner Natur
zu stellen, und diese betrifft die Natur des Katholiken, das Wesen des
Katholicismus, die psyche Lebensform des katholischen Glaubens. Wie
kommt es, dass diese grossartige Institution, die sich katholische Kirche
nennt, solchen grässlichen Schlägen ausgesetzt ist, wie sie jetzt wieder
ein frivoler Marseiller geführt hat, ohne sich zu vertheidigen, ohne
sich zu rühren, ja, ohne sich nur mucksen zu können. Stumm lässt sich
dieses uralte, apokalyptische Thier diese giftigen Speisen, die ihm ein Fran--
zose zugerichtet hat, vorsetzen, schluckt sie hinunter, rührt sich nicht und
geht auch nicht daran zugrunde. Was an geistigen Kämpfen seit dem
Beginn des XVI. Jahrhunderts über das Abendland hinweggebraust ist,
diese römische Kirche blieb unverändert oder fast unverändert, zehrend
von dem Mark, welches die ersten Jahrhunderte und die hervor-
ragenden Köpfe ihrer Kirchenlehrer für sie angesammelt. Was hat
dieses Institut für Beschimpfungen sich gefallen lassen, ohne ein Wort
darauf zu erwidern! Gehört das zum christlichen Wesen in dieser
Form nach dem Spruch: Schlägt dich Jemand auf den einen Backen,
so reiche ihm den anderen Backen auch dar! Dann ist dies tief
traurig. Denn in der modernen Auffassung des Werthes vom Leben,
welches die Menschen und Völker geharnischt und sprühend von Geist
einander sich gegenübergestellt sieht, muss eine solche Haltung, eine
solche Schlaffheit, eine solche Regungslosigkeit zu schädlichen Folgen
führen. Fünfhundert Jahre, ein halbes Jahrtausend, fast ohne Berührung
durch die immense Geistesgeschichte des Abendlandes hindurch-
gegangen zu sein, das ist ein Resultat so traurig und beklagenswerth,
dass man vergebens nach einer Parallele in der Weltgeschichte sucht.
»Ich will meine Kirche auf diesen Felsen bauen, und die Pforten der
Hölle sollen sie nicht überwältigen.« Ist das vielleicht die Erklärung
für die Unnahbarkeit der römischen Kirche? Nun, dann fürchte ich,
dieser Fels wird bald nicht mehr Gegenstand der Bekämpfung, sondern
der vollständigen Indifferenz werden. Wir leben Alle in socialer Ge-
meinschaft und reiben uns gegenseitig aneinander im Kampfe des
Daseins. Wer gar nichts mehr annimmt, noch abgibt, wer regungslos
verharrt, wer weder abfärbt, noch Farbe aufnimmt, weder absorbirt,
noch secernirt, der ist todt, und der braucht nicht mehr durch die
Hölle überwältigt zu werden. Wir haben ja im Protestantismus auch
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 748, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0748.html)