Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 747

Leo Taxil und seine Puppen (Panizza, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 747

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LEO TAXIL UND SEINE PUPPEN. 747

»de Notre Très Saint Père le Pape Léon XIII«. Wenn man bedenkt,
dass zu einem so umfangreichen Werke bedeutende Quellenstudien ge-
hören, dann ist gewiss die Frage berechtigt, etwas über den inter-
essanten Zeitpunkt zu erfahren, wann Herr Taxil sich bekehrt hat.
Steht vermuthlich dem obigen »à partir de ce jour« ein jusqu’à ce jour
gegenüber? Heute roth, morgen — katholisch oder päpstlich-violett?

Nach einem weiteren Jahr, 1886, veröffentlichte Taxil in einem
stockkatholischen Verlag seine »Confessions d’un ex-libre-penseur«, Paris,
Letouzey et Ané, 1887
, ein Buch, das angeblich über 30 Auflagen
erlebt hat und welches die niederträchtigste und heuchlerischste schrift-
stellerische Selbstbefleckung darstellt, die je ein Autor an sich be-
gangen hat. Er behauptet darin, Alles, was er seit zehn Jahren gegen
die katholische Kirche geschrieben und an historischen Documenten
veröffentlicht hat, sei von ihm absichtlich gefälscht und mehr oder
weniger erfunden. Er nimmt jedes seiner früheren Bücher her, um an
ihm seine, des Verfassers, teuflische Niedertracht zu erweisen und ins
helle Licht zu setzen. Ja, er schreckt nicht davor zurück, den Curé
Meslier
und sein hinterlassenes atheistisches Werk »Mon testament«, welches
eine der wichtigsten Etappen in der Geschichte des Freidenkerthums
und der materialistischen Philosophie im XVIII. Jahrhundert bedeutet,
welches er selbst neu in drei Bänden herausgegeben hatte und von
dem wir oben gesprochen haben, als eine Fälschung Voltaire’s
hinzustellen. Er benützt hiezu eine Briefstelle Voltaire’s, der das
»Testament« Meslier’s 1762 im Auszug herausgegeben hatte, an seinen
Freund Thiériot, worin er ihm schreibt: es sei schade, dass man diesen
Curé Meslier nicht als Bischof der Welt vorführen könne, er würde
dann mit seinem Testament noch ein weit grösseres Aufsehen machen.
Wenn der in Bücherkenntnissen enorm beschlagene Taxil diese ver-
gessene Briefstelle kannte, dann muss er auch jene zahllosen Stellen
in Voltaire’s Werken kennen, wo dieser — der bekanntlich an ein so-
genanntes »höheres Wesen« glaubte — den verstorbenen Curé, der
unter dem Drucke der Hierarchie zu einem crassen Materialisten geworden
war, als einen verstockten Landpfarrer, der nichts von Philosophie ver-
stehe, heftig angreift, ohne ihm die Bedeutung seines »Testament« des-
wegen in Abrede zu stellen — Taxil muss dann wissen und weiss,
dass das »Testament« Meslier’s eine der Hauptdiscussionen in der Mitte
des XVIII. Jahrhunderts und im Kreise der Encyklopädisten bildete,
dass es ausser auf Voltaire stark auf d’Alambert, Rousseau, Diderot, Hol-
bach,
den englischen Atheisten Bolingbroke, auf Swift u. A. wirkte, dass
der Philosoph Holbach selbst die Werke Meslier’s herausgab, und dass
die Biographie Meslier’s als ein offenes Buch vor Aller Augen liegt.
Taxil speculirt also in der leichtfertigsten Weise auf die Leichtgläubig-
keit und Unwissenheit seiner Leser und scheidet als offenkundiger
literarischer Betrüger aus der Reihe der ernsthaft zu nehmenden Schrift-
steller aus.

Selbst der Versuch, die vielleicht werthvollste seiner früheren
Publicationen, die »Livres secrets des confesseurs«, Paris, librairie anti-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 747, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0747.html)