Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 746

Leo Taxil und seine Puppen (Panizza, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 746

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746 PANIZZA.

während des letzten Halbjahres durch die Presse sattsam bekannt
gemacht worden. Da war vor Allem die unvergleichliche Primadonna
Miss Diana Vaughan, dann der erste Tenor, der Teufel Bitru, die
Herren Dr. Bataille und Dr. Hacks, Leute, die nie existirt haben,
die fürchterliche Palladistin und »Urgrossmutter des Antichrists«, Madame
Sophie Wolder, der grässliche Oberteufel Nr. 33, der »Trigamist« und
italienische Minister Francesco Crispi, Oberhaupt aller Freimaurer u. s. w.

Was uns nun aus dieser ganzen Phantasmagorie und besonders
aus dem grossen zweibändigen Variété-Werk »Le diable au XIXème
siècle«, Paris 1893
, entgegentritt, das ist die unzweifelhafte Thatsache,
dass es Taxil nicht um einen grossartig angelegten Plan, einen lang-
jährigen Feldzug oder eine feine Satyre gegen die katholische Kirche oder
den Aberglauben zu thun war, dass er nicht wie jener witzige Kölner
im XVII. Jahrhundert — Adam Widelketz — der, um der grossen
Dummheit und mariologischen Sucht seiner Landsleute entgegenzutreten,
seine berühmten »Briefe der allerseligsten Jungfrau an ihre unüberlegten
Verehrer« herausgab und damit das ganze Muckerthum mit der
Peitsche in seine finsteren Dome zurücktrieb — dass es mit einem
Worte Taxil nicht um einen höheren Zweck, sondern ausschliesslich
um ein Verlagsgeschäft zu thun war. Unser Leo Taxil, der mit seinem
wahren Namen Gabriel Jogand-Pagès heisst, offerirte in dem Augen-
blicke, da die librairie anticléricale in der rue des Écoles 26 nicht mehr
den nöthigen Absatz fand, seine Bücherbestände der katholischen Kirche.
Und er behauptete, als seine Enthüllungen über die Miss Diana
Vaughan
auf dem Trienter Congress von Nordeuropa mit einer Lach-
salve aufgenommen wurden, er habe die katholische Kirche nur
»geuzt«. Voilà l’homme!

Es entsteht nun die Frage: Soll man mit den Betrogenen ange-
sichts dieser für sie allerdings furchtbaren Sachlage Mitleid haben?
Verdienen sie Mitleid? — Nein und abermals nein! Diejenigen Bischöfe
und Vertreter der Curie, die im Jahr 1885 mit Taxil das antifrei-
maurerische Verlagsgeschäft abschlossen, wussten, mit wem sie es zu
thun hatten. Sie wussten, dass Taxil ein maquereau der Feder war,
dessen Geschicklichkeit, nicht dessen Herz sie erkauft hatten, und der
sie auch eines Tages aus egoistischen Gründen wieder verrathen werde.
Darüber lassen sich unzweifelhafte Beweisstücke erbringen: Noch Ende
Juni 1884 zeichnete Taxil die Vorrede zu seiner »La prostitution con-
temporaine«, Paris 1885
, in der er katholische Geistliche in den unsitt-
lichsten Posituren mit öffentlichen Mädchen schriftlich und bildlich vor-
führte. Bereits im folgenden Jahre zeichnet er die Vorrede zu einem
über 800 Seiten starken antifreimaurerischen Werke »Les frères trois-
points«, Paris 1885
, die mit den Worten beginnt: »Sous le titre
général de Révélations complètes sur la Franc-Maçonerie, Hauteur entre-
prend, à partir de ce jour, une série d’ouvrages dont le but est d’ar-
racher tous ses masques à une secte, trop fameuse par ses crimes poli-
tiques et autres, fondée pour combattre l’Eglise catholique romaine«
, und
citirt dann die Eingangsworte der Encyklica gegen die Freimaurer:

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 746, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0746.html)