Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 745
Text
Im Juni 1884 war er wegen Verkaufes obscöner Bilder, welche
Geistliche darstellten, zu vierzehn Tagen Gefängniss und 2000 Francs
Geldbusse verurtheilt worden. Derartiges erträgt ein Fanatiker, aber
kein Kaufmann. Und da Taxil Kaufmann war und die mächtige und
reiche römische Kirche sich gerade jetzt ihm näherte, um mit ihm ein
Geschäft abzuschliessen, so schlug Taxil ein und — bekehrte sich.
Die einzige Bedingung — so hiess es damals — unter der die Kirche
den verlorenen Sohn wieder aufgenommen habe, sei die Einstampfung
sämmtlicher anticlericalen Büchervorräthe gewesen. Dies ist nicht richtig
oder ist nicht richtig ausgeführt worden. Taxil hat jedenfalls nur
Plunder einstampfen lassen. Und die Werke, auf die es ankam, liess
sich Taxil jedenfalls von der katholischen Kirche hoch einlösen und
— liess sie dann nicht einstampfen. Wenigstens von den »Livres
secrets« konnte ich noch fünf Jahre später, zur Zeit der Pariser Welt-
ausstellung, Exemplare haben, so viel ich wollte. Ich könnte sogar den
Drucker nennen, der das Werk nach Ausscheiden Taxil’s einfach weiter
druckte. Der stereotypirte Satz wurde einfach aus der Rue des Écoles zu
dem neuen Drucker gebracht, dort die Matrizen gereinigt und dann
ruhig weiter abgezogen. Ich glaube, er zieht noch heute ab.
Es ist ja auch dieses Werk zu pikant, um sich nicht des allge-
meinen Beifalles zu erfreuen. Selbst junge Mädchen, die eben die fran-
zösische Schulgrammatik absolvirt haben, werden nur mit dem süssesten
Lippenkräuseln etwa folgende Stellen über »das Küssen« lesen, die
mit dem Ernste des absolutesten Busspredigers vorgetragen werden:
»Les baisers sur les parties honnêtes, par exemple la main et la joue, ne
sont pas mauvais de leur nature, même entre personnes de différents sexes«.
(S. 60). — Dagegen: »Les baisers même honnêtes, motivés par la passion,
donnés ou reçus, entre personnes du même sexe ou de sexes différents, sont
des péchés mortels« (ebenda). Auch das Küssen »nach Art der Tauben«
— »ou à la mode des colombes« — ist schwere Todsünde. Aber: »celui
qui, recherchant une jeune fille en mariage, rembrasse honnêtement chaque
fois qu’il arrive ou qu’il la quitte, sans se mettre en danger de mouvements
passionnés, ne doit pas être accusé de péché mortel « (St 61). — Mein
Gott, das ist ja schon ganz demi-vierge oder Altenberg »Wie ich
es sehe«. Diese Moralregeln aus dem XV. Jahrhundert werden heute
wie ein mondäner Roman gelesen.
Taxil war nun ein so geschickter Mensch, ein so emsiger Bücher-
forscher und so rastloser Unternehmer, dass es ausgeschlossen war, dass
er etwa, wie die Fiction lautete, nun im Kloster bei Bettelsuppe und
Charfreitagstisch seine Tage verbringen und seine fürchterlichen Sünden
bereuen werde. Das verlangten auch seine neuen Beschützer nicht. Der
geschickte metteur en scène hatte vielmehr rasch sein neues Bühnen-
unternehmen beieinander und sein Puppentheater aufgestellt. Nur dass
diesmal die Puppen statt aus dem katholischen Himmel und aus Rom
aus der katholischen Hölle und aus dem Freimaurerthum (was dasselbe
ist) genommen wurden. Die Einzelheiten dieser Aufführungen sind bis
zu dem grossen Schlusstableau auf dem Antifreimaurer-Congress in Trient
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 745, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0745.html)