Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 744
Text
das Entsetzen jedes modernen Pädagogen hervorrufen würde — muss
als ein verdienstliches Werk anerkannt werden. In der Vorrede
fordert Taxil höhnisch die französischen Bischöfe und Erzbischöfe auf,
ihn wegen »unbefugten Nachdrucks« zu verfolgen. Er wurde nicht
verfolgt.
Wie kommt es nun, dass Taxil aus dieser reichen Verlags-
thätigkeit — der Katalog weist über hundert Nummern auf — sich
herausreissen und zu der heute komischen Figur des büssenden Sünders
und Rompilgers überreden liess. Anfangs hatte Taxil sich auf die
grosse republikanische Bewegung der Laïsirung der Schulen in Frankreich
gestürzt. Diese Bewegung hatte grosse Popularität, und insolange mag
Taxil’s Thätigkeit von grossem Erfolge begleitet gewesen sein. Ja er
schrieb sogar »livres pour les enfants, rédigés selon les principesré publicains
et anticléricaux«, darunter eines mit dem Titel »La religion chrétienne
expliquée à la jeunesse, de façon à lui inculquer le mépris de la superstition
et la haine du clergé«, und druckte den »Catéchisme national« für die
untersten Volksschulclassen. Aber bald machte der Papst seinen Frieden
mit der französischen Republik. Die Geistlichkeit wurde strenge ange-
wiesen, jeden Ausfall gegen die französische Staatsform zu unterlassen.
Bald zeigte sich auch die französische Regierung höflicher. Die aller-
ärgsten Schmähungen in den Zeitungen hörten auf. Und, was anfangs
von der französischen Kammer mit Entschiedenheit abgewiesen wurde,
die Entfernung von bildlichen Darstellungen katholischer Geistlicher in
den lächerlichsten und obscönsten Situationen wenigstens aus den Aus-
lagefenstern, wurde jetzt zugebilligt. Das Alles schädigte Taxil. Und
dann: das französische Volk liest so entsetzlich wenig. Dieses Volk
mit seinen wunderbaren Augen, welches uns jedes Jahr in Farben und
Formen die zauberischsten Geheimnisse als Hülle für den Frauenleib
zusammenstellt und das in allen Fragen der Aesthetik noch immer die
Führerschaft in Europa besitzt, wie sollte ein solches Volk — lesen.
Und für den Export waren Taxil’s Sachen ebenfalls nicht geeignet. Das
war nichts von mondänem Charakter. Das war Alles rücksichtsloseste
Verhöhnung und Beschimpfung. Ich kenne kein einziges seiner Bücher,
welches eine grössere Anzahl von Auflagen erlebt hätte. Und wenn
auch bei vielen seiner Werke, welche auf Subscription und in Lieferungs-
ausgaben erschienen, die Höhe der Tirage nicht festgestellt werden kann,
bei anderen, wie bei den »Livres secrets«, der Satz sogar stehen blieb
und immer wieder neue Abzüge gemacht wurden, Abzüge, die, nach
der Abgenütztheit der Druckformen in einem mir vorliegenden Exemplar
zu schliessen, allerdings ziemlich hohe gewesen sein müssen — Taxil
hatte seine eigene Druckerei — in das Volk sind diese Bücher nicht
gedrungen, einfach, weil der Romane überhaupt Bände mit 400 bis
500 Seiten nicht liest. Taxil muss also eines Tages und nachdem
die Neugier seiner internationalen Gefolgschaft der Hauptsache nach
gestillt und eine weitere Paprikaverschärfung des Inhaltes nicht möglich
war, als kundiger Geschäftsmann gemerkt haben, dass es mit der Note
anticlerical nicht mehr weiter gehe.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 744, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0744.html)