Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 793
Text
Wiener Rundschau.
15. SEPTEMBER 1897.
DER ALTE OBERST.
Novelle von Willy Pastor (Berlin).
»Und ich lasse mir das nicht länger gefallen! Du brutalisirst mich,
du bist roh, du bist gemein, du — oh, du — Scheusal!«
Die Thüre fiel so kräftig zu, dass die Kaiserbüste auf dem Wand-
brett schwankte. Eine zweite und dritte Thüre machten nicht weniger
Lärm. Dann endlich wurde es ruhig. Frau Oberst war in ihrem Zimmer.
Jetzt erst wagte der alte Mann sich zu rühren. Mit müden
Schritten ging er an den kleinen Ecktisch und zog die Spieluhr auf.
Das war ihm nun fast zu einer Art instinctiver Handlung geworden,
die das Gekeife seiner Frau in ihm auslöste. Die leisen Accorde, die
sich so angenehm folgten, ohne dass einer sich vordrängte, hatten etwas
so Beruhigendes. Mochte es ihm von der letzten Gardinenpredigt noch
so sehr in den Ohren stechen und summen, diese Melodien mit ihrem
sanften Geriesel spülten Alles weg.
Und dann die Erinnerungen, die wunderbaren Erinnerungen, denen
man bei solcher Musik nachhängen konnte! Besonders wenn ein Marsch
an der Reihe war. Wie die starken Klänge in der schwachen Spieluhr
sich ausnahmen, das war ganz unbegreiflich schön. Dann konnte der
alte Oberst träumen wie ein Jüngling. Es war ihm, als stünde er auf
einer endlosen Ebene, und in weiter, weiter Ferne zog Militär vorüber.
Aber die Entfernungen schwanden, je länger er hinhörte. Und plötzlich
sah er sich mitten unter den Pickelhauben, hoch zu Pferd. Er hörte
ihren schweren Tritt, und das Herz ging ihm auf, wenn die rauhen
Stimmen um ihn her die lieben, alten Soldatenlieder sangen.
Ach, die Zeiten hatten doch recht viel geändert! Der Mann,
der damals vor der Front straff seinen Dienst versah, sass jetzt mit ein-
gefallenem Gesicht vor einem kleinen Leierkasten. Und gar das Ohr,
dem das Dröhnen der Soldatenkehlen Musik gewesen war, das hielt
nicht mal mehr Stand vor einer Weiberstimme.
Heute war diese Stimme besonders scharf gewesen. Der Alte
wollte noch genauer als sonst hinhorchen. So legte er zum erstenmal
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 793, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0793.html)