Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 792

»Die Reden Kaiser Wilhelms II.« Wedekind, »Die Fürstin Russalka«

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 792

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792 NOTIZEN.

Freunde der Oeffentlichkeit und
Mündlichkeit darstellen.

Als allgemeines Merkmal der
Reden des Regenten, die sich nun
zum erstenmale gesammelt über-
sehen lassen, ist der Durchbruch
einer starken Persönlichkeit, einer
Individualität zu nennen. Autos epha
— Alles hat er selbst gesprochen.
Und wir werden die Kraft dieser
Persönlichkeit um so höher an-
schlagen müssen, als die Anlässe,
bei denen sie sich äussert, die
denkbar ungünstigsten sind für
solche Entfaltung.

Dr. Emil Rechert.

Die Fürstin Russalka.
Von Frank Wedekind. Verlag
von Albert Langen, Paris, Leipzig,
München. 1897.

Eines jener Bücher, die zu trau-
rigem Empfinden stimmen, weil sie
à tout prix lustig sein möchten.
Diese Absicht, die unwahre, ge-
machte, als Maske angenommene
Ironie verräth sich als solche dem
Auge dessen, der zu lesen versteht.
Dass Wedekind eines tieferen, rei-
neren Empfindens fähig ist, das
beweisen so manche seiner Skizzen
und Gedichte im Buche »Die Fürstin
Russalka«. Aber als ob ihn selbst
eine irre Scham überkäme und er
die edlere Regung wettmachen
möchte, versteigt er sich zu den
unglaublichsten Geschmacklosig-

keiten und Rohheiten. Dazu ge-
hören namentlich die im Knittel-
versmass »gedichteten« Balladen,
welche jedem jener verdächtigen
Bücher, die unter Kreuzband »dis-
cret« zugesendet werden — Un-
ehre machen würden. Es ist psy-
chologisch erklärlich, wenn der
Dichter, der in seinem Urempfinden
keusch und mimosenhaft ist, nur
mit Zagen und Zittern der kalten
Menge preisgibt, was ihm die hehre
Stunde der Kunst geschenkt. In
der rauhen Luft der gleichgiltigen
Welt verlieren ja die Poesien den
reinen Zauber des Scheuen, Unbe-
fleckten. Aber die Furcht vor dem
»Sichwegwerfen« darf nicht dazu
führen, als betrunkener Landsknecht
verkleidet, eine Schindmähre statt
des Musenrosses zu besteigen und
einer entzückten Gesellschaft von
Zuhältern »Lieder« vorzutragen, die
selbst die Druckerschwärze zum Er-
röthen bringen könnten. Man dürfte
sonst leicht zum Glauben verleitet
werden, dass nicht ein Dichter
sich unter der Maske des Gauklers
verbirgt, sondern dass Rohheit zur
hässlichen Alltagsgewohnheit ge-
worden sei, und dass jene wenigen,
echten Poesien bloss die Erinne-
rung an eine Zeit bedeuten, die
längst vergangen und die nicht
mehr wiederkehrt

Wien. Alfred Neumann.



Herausgeber und verantwortlicher Redacteur: Rudolf Strauss.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 792, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0792.html)