Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 784
Text
Von Dr. Paul Bornstein (Berlin).
(Fortsetzung.)
Das grosse Geheimniss, das Transcendente ruht in der Tiefe
Maeterlinck’scher Dramen. Unsichtbar ist es vorhanden, ungreifbar ist
es da. Es liegt in der Luft, es sättigt sie mit dumpfer Schwüle, es
durchdringt alles Leben. Es ist der dunkle Unterton, der überall mit
anklingt, der dunkle Untergrund, von dem Personen und Ereignisse
sich abheben. Als jenes imponderable Fluidum, jenes »je ne sais quoi«,
das wir Stimmung nennen, schlägt es uns mit kühlen Schauern ent-
gegen, fasst es uns an mit Geisterhand, dass wir Skeptische unsere
Schulweisheit vergessen. Es lässt verborgene Nerven in uns schwingen,
die sonst nicht erzittern, es versetzt uns in jene Spannung, die auf
Ungewöhnliches und Ausserordentliches vorbereitet. Der Zauber der
Stimmung — von ihm geht jener heimliche, dämonische Reiz aus, der
uns Blasirte immer wieder zu diesem Poeten treibt. Wir können uns
seiner bezwingenden Eigenart nicht entziehen. Mit souveräner Hand
spielt Maeterlinck auf der Claviatur unserer Seele; nur ein Meister
findet solche Weisen. Nicht immer sind sie traurig; oft tritt das Dunkel
zurück — dann entsteigen seiner traumhaften Phantasie Bilder von
einer süssinnigen, schlichten, stillen Schönheit, von der unendlich milden
Schönheit des jungen Frühlingstages. So hingehaucht und selbstver-
gessen. Das Glück aufkeimender Liebe, die traurige Süsse der ver-
botenen, der ewige Schmerz der verzichtenden — ihm sind sie ver-
traute Klänge; Mutterliebe und Geschwisterliebe — ihm entschleiern
sie ihre geheimen Reize. Zauberhafte Bilder auch menschlichen
Glückes und Friedens weiss er zu geben — kurze Intermezzi, einem
unerbittlichen Fatum abgerungen, vor dessen rauhem Hauch ihr goldener
Glanz nur zu bald verblassen muss. Und die doch so ergreifend wirken,
gerade weil wir wissen, dass es der Glanz der untergehenden Sonne
ist, der ihnen ihr stilles Licht gibt, weil wir wissen, dass bald, zu bald
die Nacht kommt.
Die Stimmung des Aussergewöhnlichen zu erzeugen, dient vor
Allem ein aussergewöhnliches Milieu. In diesen Dramen ist Alles
»étrange« — gesteigert, unheimlich, seltsam. Schon die Zeit! Wann
mögen sie alle gelebt haben, diese Könige, Prinzen und Prinzessinnen?
Sie sehen aus, als stammten sie aus grauer Vorzeit; sie haben so etwas
Mittelalterliches und Ritterliches an sich, als wären sie just aus alten
Epen emporgestiegen. Aber dies Balladeske ist rein äusserlich und
decorativ — Rang so wenig wie Gewand sind ihnen integrirend. Sie
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 784, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0784.html)