Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 785

Maurice Maeterlinck (Bornstein, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 785

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MAURICE MAETERLINCK. 785

könnten in grauer Zukunft so gut leben wie in grauer Vergangenheit.
In Wahrheit stehen wir auf dem Boden des Ewigmenschlichen, losgelöst
von aller Zeit. Die Dinge geschehen sozusagen sub specie aeterni. Ver-
lassen ist auch der Boden der realen Welt, wir befinden uns durchaus
in einer künstlichen, phantastischen. Reminiscenzen an holländische
Landschaften klingen an, aber sie sind wie Alles stylisirt. Kein mensch-
liches Auge hat sie je gesehen, diese Königshöfe mit dem seltsam
archaistischen Anstrich, diese einsamen Herrensitze, diese an Böcklin
gemahnenden Schlösser am Meeresstrand, die der Hauch der Verlassen-
heit unfreundlich umwittert. Uralt sind sie und halbverfallen, finster
und öde — mit düsteren Gemächern und hallenden Gängen, die so
lang sind, dass sie in einer Art inneren Horizontes sich selbst zu ver-
lieren scheinen, und auf die zahllose Thüren münden. Geheimniss-
volle Grotten bergen sie in ihrem Grunde, voll von Seen mit ver-
zehrenden Wassern, oder umspült vom blau hindurchschimmernden
Meere — schreckliche Kerker. Inmitten schaurig dunkler Wälder
stehen sie, die nie ein Strahl der Sonne durchbricht; gewaltige Thürme
ragen in tief gestirnte Himmel empor. Wer ungewohnt diese Welt be-
tritt, dem legt sie sich auf die Brust mit dem Alp des Schauderns,
mit der Beklemmung banger Ahnungen.

Zwischen dem Menschen und dem geheimnissvollen Fatum schiebt
diese Natur sich ein: so bedient sich das Fatum ihrer als Vermittlerin.
Aus der Natur reckt es dem Menschen seine unirdischen Fangarme
entgegen, aus Naturvorgängen raunt, leitend und warnend, seine dunkle
Stimme. So werden die Aeusserungen dieser an sich schon seltsamen
Natur zu noch geheimnissvolleren Symbolen für das Walten der
ewigen Mächte. Jedem Eingriff des Geschickes gehen diese Symbole
voraus; sie geleiten die Handlung bis zur Katastrophe, den Menschen
bis an den Rand des Abgrundes. Kosmisch-uranische Vorgänge be-
deuten dem Lande schwere Zeiten; Tauben flattern auf beim Stell-
dichein liebender Unschuld; Eulen, mit glühenden Augen im Dunkel
auf Bäumen sitzend, ein wühlender Maulwurf, das angstvolle Auf-
schluchzen und schliessliche Versiegen der Springquelle kündet todt-
geweihter Liebe den Untergang. Bei der grausen Ermordung eines un-
schuldigen Mädchens stürzt klirrend eine Vase mit einer Lilie; ein
furchtbarer Mahner mit tausend Fingern, schlägt jählings der Hagel
an die Scheiben. Man sieht, diese Symbolik ist verhältnissmässig ein-
fach, sie lehnt sich an volksthümliche Motive an; aber sie ist höchst
durchsichtig und von schlagender Kraft. Sie erhöht die ohnedies schwüle
Stimmung zu fieberhafter, geängstigter Spannung, sie nur ermöglicht
es, das schrittweise Vorrücken des Verhängnisses in stetiger Steigerung
und furchtbarer Eindringlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Ein wirk-
sames Mittel, in dessen Anwendung Maeterlinck sich erst mit der Zeit
vervollkommnet hat. Die bis zum Missbrauch getriebene Anhäufung
grausiger Elemente in »Princesse Maleine« scheint mir hart auf jener
schmalen Scheide zu balanciren, die das Erhabene vom Lächerlichen
trennt. Hier ist Takt und Mass Alles. Es ist ein himmelweiter Unter-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 785, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0785.html)