Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 783

Jacob Burckhardt (Schaeffer, Emil)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 783

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JACOB BURCKHARDT. 783

sirt Burckhardt hier die Kunst und die Künstler Italiens, gibt (wie
Nietzsche von sich rühmt) in einem Satze mehr als Andere in einem
Bande und findet für ganze Gruppen von Gemälden, für ganze Schulen
Worte, die als termini technici längst in alle Kunstgeschichten über-
gegangen sind.

Hier aber, beim »Cicerone«, muss auch unsere, d. h. der »Jungen«
Kritik einsetzen. In der Baukunst des Barock sehen wir heute nicht
nur eine »verwilderte Renaissance«, wir begeistern uns mehr für
Sansovino als für Palladio, und in sein allzu herbes Urtheil über
manche Bilder Tintoretto’s werden wir kaum mehr einstimmen. Es
sind eben fast dreissig Jahre verstrichen, seit Burckhardt den »Cicerone«
schrieb, und in dreissig Jahren wandelt sich das Kunstempfinden. Aber
gerade dort, wo wir anders fühlen, können wir am besten von Burck-
hardt lernen, wenn wir unsere Kritik bescheiden vergleichend neben
seine setzen. Das ist kein Verbrechen und gewiss eher im Sinne des
Meisters gehandelt, als wenn wir in blindem Respect vor seiner Autorität
oder aus Denkfaulheit nachsprechen und nachschreiben, was ein Anderer,
und sei es der Grösste, dreissig Jahre vor uns empfunden.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 783, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0783.html)