Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 797

Abschied (Linsemann, Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 797

Text

ABSCHIED.
Von Paul Linsemann (Berlin).

Mit dem Berliner Morgenzuge war er auf dem Nordwestbahnhof
in Wien angekommen. Am Mittag wollte er dann nach Ischl weiter-
fahren.

Es war ein prachtvoller Junimorgen. Er nahm also einen Ein-
spänner und gebot: Nach dem Prater. Aber langsam fahren.

Er kannte jeden Baum in der Hauptallee. In jedem der Kaffee-
häuser hatte er mit ihr gesessen, diesen Weg war er so oft mit ihr
gegangen, gefahren. Das würde nun nicht mehr sein.

Und Rolf überfiel eine tiefe Traurigkeit, eine Müdigkeit der
Seele. Und er musste an die drei letzten Jahre seines Lebens denken.
Sie hiessen Dora. Und heute wurde es ihm zur Gewissheit, dass er sie
nie vergessen, dass ihr Schatten ihn immer begleiten würde. Ihr Bild
war wie mit sympathetischer Tinte in seine Seele geschrieben: der
Hauch einer jeden Erinnerung erweckte es zu neuem Leben. Er würde
sie nicht vergessen, trotz der Anderen.

Am Blatt und Grashalm blinkte noch der silbrige Thau, über
den die Sonnenlichter huschten. Aber Rolf sah es nicht. In seiner
Seele war ein fröstelnder, langweiliger, grauer Novembertag. Oede
und trübe.

Drei Jahre lagen hinter ihm mit ihren Tagen des Glücks und
ihren Tagen der Hölle. Drei lange Jahre, die dieser Frau gehörten.
Und nun? Nun war es aus. Nun sollte es sein, als ob nie etwas
gewesen wäre.

Und er ärgerte sich über das launische Herz. Im Sande also
verlief seine grosse Tragödie wie eine gleichgiltige, abgeschmackte
Philisterkomödie. Wie konnte sie nur aufhören, diese Liebe?

Das fragte er sich auf der langen Fahrt nach Ischl noch oft
genug. Einst ja einst, da lachte er darüber. Er konnte die Mög-
lichkeit nicht ausdenken. Und doch war es so gekommen und musste
wohl auch so kommen. Rolf aber grollte über die Armseligkeit des
Herzens. Er begriff es wohl, wie diese Liebe enden konnte wie die
Kerzenflamme, die ein starker Windhauch ausbläst. Aber er wollte
und konnte es nicht verstehen, wie sie endet, weil ihr Material ver-
zehrt ist.

Er liebte sie nicht mehr, das war ihm ganz klar. Auch war ja
die Andere schon da. Er verglich: sie gaben einander nichts nach.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 797, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0797.html)