Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 801

Emerson (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 801

Text

EMERSON.
Von Maurice Maeterlinck.
Autorisirte Uebersetzung von Clara Theumann.

»Nur eines thut Noth,« sagt Novalis, »nämlich unser transcenden-
tales Ich aufzusuchen.« Dieses Ich erblicken wir zu Zeiten in den
Worten Gottes, in jenen der Dichter und Weisen, am Grunde mancher
Freuden und mancher Schmerzen, im Schlaf, in der Liebe, den Krank-
heiten und in unerwarteten Verbindungen der Dinge, wo es uns von
Weitem zuwinkt und mit dem Finger auf unsere Beziehungen zum
Weltall deutet. Einige weise Männer verlegten sich einzig und allein
auf dieses Suchen und schrieben jene Bücher, wo das Aussergewöhn-
liche vorherrscht. »Was hat einen Werth in den Büchern,« sagt unser
Autor, »wenn nicht das Transcendentale und das Aussergewöhnliche?«
Sie waren wie Maler, die sich bemühen, in der Dunkelheit eine Aehn-
lichkeit zu erfassen. Die Einen warfen abstracte, sehr grosse, aber fast
unkenntliche Bilder hin. Den Anderen gelang es, eine Stellung oder
eine gewohnheitsmässige Geberde des höheren Lebens festzuhalten.
Mehrere von ihnen dachten merkwürdige Wesen aus. Es existiren nicht
viele dieser Bilder. Sie sehen sich nicht ähnlich. Manche sind sehr
schön; jene Menschen, die sie nicht gesehen haben, sind ihr ganzes
Leben, als ob sie nicht um Mittag ausgegangen wären. Andere Bilder
haben Linien, reiner, als die Linien des Himmels, und dann erscheinen
uns diese Bildnisse so entfernt, dass wir nicht wissen, ob sie leben
oder nur nach uns selbst gezeichnet worden sind. Sie sind das Werk
der reinen Mystiker, und der Mensch erkennt sich noch nicht in ihnen.
Andere, die man die Dichter nennt, haben uns indirect von diesen
Dingen gesprochen. Eine dritte Classe von Denkern hat uns, den alten
Mythus der Centauren um einen Grad erhebend, von dieser verborgenen
Identität ein zugänglicheres Bild gegeben, indem sie die Linien unseres
sichtbaren Ichs mit jenen unseres höheren Ichs verschmolz. Das Antlitz
unserer göttlichen Seele lächelt zuweilen über die Schulter ihrer
Schwester, der menschlichen Seele, hinweg, die gebeugt steht im Dienste
der bescheidenen Verrichtungen des Gedankens, und dieses Lächeln,
das uns im Vorübergehen alles jenseits des Gedanken Liegende er-
blicken lässt, dieses Lächeln einzig und allein ist von Wichtigkeit in
den Werken der Menschen. — — —

Sie sind nicht zahlreich jene Männer, die uns zeigten, dass der
Mensch grösser und tiefer ist als er selbst, und denen es gelang, so
einige jener ewigen Hinweise festzuhalten, die wir im Leben jeden
Augenblick in einer Geberde, einem Zeichen, einem Blick, einem Worte,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 801, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0801.html)