Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 802

Emerson (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 802

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802 MAETERLINCK.

einem Schweigen und den uns umgebenden Ereignissen finden. Die
Wissenschaft von der menschlichen Grösse ist die seltsamste der
Wissenschaften. Keinem Menschen ist sie unbekannt, aber fast Alle
wissen nicht, dass sie sie besitzen. Das Kind, das mir begegnet, wird
nicht imstande sein, seiner Mutter zu sagen, was es gesehen hat, und
dennoch weiss es, sobald sein Auge mich erblickt hat, Alles, was ich
bin, was ich war, was ich sein werde, ebenso gut wie mein Bruder
und dreimal so gut als ich selbst. Es kennt mich sofort in der Ver-
gangenheit und in der Zukunft, in dieser Welt und allen anderen, und
seine Augen offenbaren mir wieder die Rolle, die ich im Weltall und
in der Ewigkeit spiele. Die unfehlbaren Seelen haben sich gegenseitig
beurtheilt, und sobald sein Blick meinen Blick, mein Antlitz, meine
Haltung und all das Unendliche, das diese umgibt und dessen Dolmetsch
sie sind, erfasst hat, weiss es, woran es ist, und obgleich es eine
Kaiserkrone von einem Bettelsack noch nicht unterscheiden kann, hat
es mich einen Augenblick ebenso genau wie Gott gekannt.

Allerdings handeln wir schon wie Götter, und unser ganzes Leben
vergeht inmitten unendlicher Gewissheiten und Unfehlbarkeiten. Aber
wir sind Blinde, die den Wegen entlang mit Edelsteinen spielen, und
jener Mann, der an meine Thüre klopft, gibt in dem Moment, wo er
mich grüsst, ebenso wunderbare geistige Schätze her wie der Prinz,
den ich dem Tode entrissen hätte. Ich öffne ihm, und einen Augen-
blick sieht er zu seinen Füssen wie von einem Thurm herab Alles, was
zwischen zwei Seelen stattgefunden hat. Die Bäuerin, die ich nach dem
Wege frage, beurtheile ich ebenso tief, als ob ich sie nach dem Leben
meiner Mutter gefragt hätte, und ihre Seele hat ebenso vertraut mit
mir gesprochen wie die meiner Braut. Bevor sie mir antwortete, stieg
sie eiligst bis zu den grössten Mysterien, dann, als sie plötzlich wusste,
wer ich war, sagte sie mir ruhig, dass ich links den Dorfpfad ein-
schlagen müsse. Wenn ich eine Stunde in einer Menschenmenge ver-
bringe, habe ich tausendmal, ohne etwas zu sagen und ohne einen
Augenblick daran zu denken, die Lebenden und die Todten beurtheilt,
und welches dieser Urtheile wird beim jüngsten Gerichte zurückgewiesen
werden? In diesem Zimmer sind fünf oder sechs Wesen, die vom
Regen oder vom schönen Wetter sprechen; aber über diesem nichtigen
Gespräch haben sechs Seelen eine Unterredung, der sich keine mensch-
liche Weisheit gefahrlos nähern kann, und obgleich sie durch ihre
Blicke, ihre Hände, ihr Antlitz, ihre ganze Persönlichkeit sprechen, wird
es stets unbekannt bleiben, was die gesagt haben. Dennoch müssen sie
das Ende des unfassbaren Dialoges abwarten, und deshalb empfinden
sie in ihrer Langweile eine unbestimmte geheimnissvolle Freude, ohne
das zu kennen, was in ihrem Innern allen Gesetzen des Lebens, des
Todes und der Liebe lauscht, die wie unversiegbare Ströme um das
Haus fliessen.

So ist es überall und immer. Wir leben nur unserem transcenden-
talen Wesen gemäss, dessen Handlungen und Gedanken fort und fort
die uns umgebende Hülle durchbrechen. Ich suche heute einen Freund

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 802, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0802.html)