Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 803

Emerson (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 803

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EMERSON. 803

auf, den ich nie gesehen habe, aber ich kenne sein Werk und weiss,
dass seine Seele aussergewöhnlich ist und er sein Leben damit ver-
bracht hat, sie so gewissenhaft als möglich kund zu thun, der Pflicht
der höheren Intelligenzen gehorchend. Ich bin voller Unruhe; es ist
eine feierliche Stunde. Er tritt ein, und alle Erklärungen, die er uns
während einer langen Reihe von Jahren gegeben hat, zerfallen in Staub,
wie sich die Thüre über seiner Persönlichkeit öffnet. Er ist nicht, was
er zu sein glaubt. Er ist anderer Art als seine Gedanken. Wieder
einmal constatiren wir, dass die Sendboten des Geistes immer unzu-
verlässig sind. Er hat über seine Seele sehr tiefempfundene Dinge ge-
sagt, aber in dem kleinen Zeiträume, der den weilenden Blick vom
scheidenden trennt, habe ich alles das erfahren, was er nie wird sagen,
nie in seinem Geiste zu Leben erfachen können. Von nun an gehört
er mir unwiderruflich. Einst waren wir durch den Gedanken vereint.
Heute fesselt uns eine tausend- und abertausendmal geheimnissvollere
Sache als der Gedanken aneinander. Jahre und Jahre hindurch erwarteten
wir diesen Augenblick, und da fühlen wir nun, dass Alles unnütz ist,
und um uns nicht vor dem Schweigen zu fürchten, sprechen wir, die
wir bereit waren, uns geheime und wunderbare Schätze zu zeigen, von
der Stunde, die der Kirchthurm mit seinen Schlägen anzeigt, oder der
untergehenden Sonne, um unseren Seelen Zeit zu geben, sich zu be-
wundern und in jenem anderen Schweigen zu umfangen, welches das
Flüstern der Lippen und des Gedankens nicht stören kann. — — — —

Im Grunde genommen leben wir nur von Seele zu Seele und
sind Götter, die sich nicht kennen. Wenn es mir heute Abends un-
möglich ist, meine Einsamkeit zu ertragen und ich unter die Menschen
gehe, werden sie mir sagen, dass das Gewitter eben ihre Birnen vom
Baume geschlagen hat oder die letzten Fröste den Hafen abgesperrt
haben. Bin ich deshalb gekommen? Und dennoch werde ich bald mit
ebenso befriedigter, kraftvoller und an neuen Schätzen reicher Seele
von dannen gehen, als ob ich diese Stunden mit Plato, Sokrates oder
Marc Aurel verbracht hätte. Was ihre Lippen sagten, war unhörbar
neben dem, was ihre Gegenwart verkündigte, und es ist dem Menschen
unmöglich, nicht gross und bewunderungswürdig zu sein. Was der
Gedanke denkt, ist von gar keinem Belange neben der Wahrheit, die
wir verkörpern und die sich stillschweigend behauptet; und. wenn nach
fünfzig Jahren der Einsamkeit Goethe, Epiktet und St. Paul an meiner
Insel landeten, könnten sie mir nur das sagen, was mir zugleich und
schneller vielleicht der kleine Schiffsjunge auf ihrem Gefährte sagen
würde.

Was in der That das Seltsamste am Menschen ist, das ist sein
verborgener Ernst, seine geheime Weisheit. Der Leichteste lacht nie
wirklich unter uns, und trotz seiner Bemühungen gelingt es ihm nicht,
eine Minute zu verlieren; denn die menschliche Seele ist aufmerksam
und thut nichts Unnützes. »Ernst ist das Leben«, und im Grunde
unseres Wesens hat unsere Seele noch nicht gelächelt. Jenseits unserer
unfreiwilligen Aufregungen führen wir ein wunderbares, unbewegliches, sehr

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 803, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0803.html)