Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 804

Emerson (Maeterlinck, Maurice)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 804

Text

804 MAETERLINCK.

reines und sehr sicheres Leben, auf das die sich darbietenden Hände,
die sich öffnenden Augen, die sich begegnenden Blicke stündlich hin-
weisen.

Alle unsere Organe sind die mystischen Mitschuldigen eines
höheren Wesens, und nie haben wir einen Menschen, nein, immer nur
eine Seele kennen gelernt. Ich habe diesen Armen, der auf den Stufen
meiner Schwelle um ein Almosen flehte, nicht gesehen; aber ich schaute
Anderes; in unsern Augen grüssten und liebten sich zwei gleiche
Schicksale, und in dem Augenblicke, in dem er die Hand ausstreckte,
öffnete sich die kleine Thüre des Hauses für einen Moment über dem
Meere. »In meinen Beziehungen zu meinem Kinde,« sagte Emerson,
»nützen mir Griechisch und Latein, Alles, was ich weiss, alles Gold,
was ich besitze, gar nichts; was ich an Seele habe, ist allein von Be-
lang. Wenn ich einen Willen habe, stellt er mir den seinen gegenüber,
gleich zu gleich, und lässt mir, wenn ich will, die Schmach, meine
Kraft zu missbrauchen, indem ich ihn schlage; aber wenn ich auf
meinen Willen verzichte und im Namen der Seele handle, indem ich
sie als Schiedsrichter zwischen uns Beide stelle, dann blickt durch
seine jugendlichen Augen dieselbe Seele, und mit mir verehrt und
liebt er.«

Aber wenn es wahr ist, dass der Geringste unter uns keine Ge-
berde machen kann, ohne der Seele und den geistigen Gefilden, wo
sie herrscht, gerecht zu werden, so ist es ebenso richtig, dass die
Weisesten fast nie an das Unendliche denken, das in einem sich
öffnenden Auge, in einem gebeugten Haupt, in einer sich schliessenden
Hand liegt.

Wir leben so weit entfernt von uns selbst, dass wir fast nichts
von all dem wissen, was am Horizonte unseres Wesens vorgeht. Wir
irren, dem Zufall preisgegeben, im Thale umher, ohne zu ahnen, dass
alle unsere Geberden auf dem Berggipfel wiederholt werden und erst
dort ihre Bedeutung erlangen, so dass von Zeit zu Zeit immer Jemand
kommen und uns sagen muss: Schlaget die Augen auf, sehet, was ihr
seid, sehet, was ihr thut; nicht hier leben wir, oben, auf den Höhen
sind wir; seht, was diese Worte, die keinen Sinn hatten am Fusse
des Berges, jenseits des Schnees der Gipfel werden, was sie bedeuten,
und wie unsere Hände, die wir für so schwach und klein halten, stets
zu Gott hinanreichen, ohne es zu wissen.

Einige Menschen haben uns so auf die Schulter geklopft und
uns mit dem Finger das gezeigt, was auf den Gletschern des Myste-
riums vor sich geht. Sie sind nicht zahlreich. Es gibt deren drei oder
vier in diesem Jahrhundert, fünf oder sechs in den anderen, und Alles,
was sie uns sagen konnten, ist nichts im Vergleich zu dem, das statt-
gefunden hat und unserer Seele kund ist. Aber was liegt daran?
Gleichen wir nicht einem Menschen, der in den ersten Jahren seiner
Kindheit das Augenlicht verloren hat? Er hat das unerschöpfliche
Schauspiel der Wesen gesehen. Er hat die Sonne, das Meer, den Wald
gesehen. Jetzt sind diese Wunder für immer in seinem Körper, und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 804, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0804.html)