Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 805

Emerson (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 805

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EMERSON. 805

wenn ihr ihm von ihnen erzählt, was könnt ihr ihm sagen, was werden
eure kläglichen Worte sein im Vergleich zu der Waldeslichtung, dem
Sturm und der Morgenröthe, die noch am Grunde seines Geistes und
seines Fleisches leben? Dennoch wird er euch mit glühender, erstaunter
Freude lauschen, und obwohl er Alles weiss und eure Worte all das
weit unvollkommener wiedergeben, als ein Glas Wasser einen grossen
Strom, werden die kleinen, ohnmächtigen Sätze, die von den Lippen
der Menschen fallen, einen Augenblick den Ocean, das Licht und das
düstere Laubwerk in ihm erleuchten, die in der Dunkelheit unter seinen
todten Lidern schliefen.

Das Antlitz dieses »transcendentalen Ichs« ist wahrscheinlich ein
unendlich mannigfaltiges, und keinem der Mystikermoralisten ist es ge-
lungen, dasselbe zu studiren. Swedenborg, Pascal, Novalis, Hello und
einige Andere untersuchen unsere Beziehungen zu einer abstracten,
subtilen und sehr weiten Unendlichkeit. Sie führen uns auf Berge,
deren Gipfel uns unnatürlich, unbewohnbar erscheinen, auf denen wir
oft mit Mühe athmen. Goethe begleitet unsere Seele an den Ufern
des Meeres der »Heitern«. Marc Aurel lässt sie an den menschlichen
Hügeln der vollkommenen, müden Güte, unter dem zu schweren Laub-
werk der hoffnungslosen Resignation ruhen. Carlyle, der geistige Bruder
Emerson’s, der uns in diesem Jahrhundert am anderen Ende des Thaies
zuwinkt, lässt die einzigen heroischen Momente unseres Wesens wie
Blitze auf dem schatten- und gewitterreichen Grunde des stets un-
geheuerlichen Unbekannten vorüberzucken. Er führt uns wie eine tolle
Heerde durch Sturm und Wetter ungekannten und schwefeligen Weiden
zu. Er treibt uns in das tiefste Dunkel, das er freudig entdeckt hat,
und das einzig und allein der ungleichmässige, gewaltige Stern der
Helden erleuchtet; er überlässt uns dort mit bösem Lachen der mannig-
faltigen Wiedervergeltung der Mysterien.

Aber da haben wir zu gleicher Zeit Emerson, den guten morgen-
frischen Hirten der fahlen, grünen Wiesen eines neuen, natürlichen,
verständlichen Optimismus. Er führt uns nicht längs der Abgründe. Er
ruft uns nicht heraus aus der bescheidenen, alltäglichen Einfriedung,
weil der Gletscher, das Meer, der ewige Schnee, der Palast, der Stall,
der erloschene Ofen des Armen und das Lager des Kranken, weil all
dies unter demselben Himmel liegt, durch dieselben Sterne geläutert
und denselben unendlichen Mächten unterworfen ist.

Er ist für Viele in dem Augenblick gekommen, wo er kommen
musste, und wo sie nach neuen Erklärungen lechzten. Die heroischen
Stunden sind weniger hervorstechend, die Stunden der Selbstverleug-
nung sind noch nicht wiedergekommen; es bleibt uns nur noch das
tägliche Leben, und dennoch können wir nicht ohne Grösse leben!
Er hat diesem Leben, das nicht mehr seine traditionellen Horizonte
hatte, einen fast annehmbaren Sinn verliehen, und vielleicht war er
imstande, uns zu zeigen, dass es seltsam, tief und gross genug ist, um
keines anderen Zweckes als seiner selbst zu bedürfen. Er weiss nicht
mehr vom Leben als die Anderen; aber er spricht mit mehr Muth

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 805, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0805.html)