Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 808
Maurice Maeterlinck (Bornstein, Dr. Paul)
Text
Von Dr. Paul Bornstein (Berlin).
(Schluss.)
Auf gleicher Höhe steht »Les Aveugles«. Blinde, Männer und
Weiber, leben in einem Hospital auf einsamer Insel; ein liebender
Priester hat sich ihrer angenommen als Stütze und Führer. Nun hat
er sie hinausgeführt auf die Lichtung des dunklen Waldes mit seinen
uralten Bäumen, hat sich von ihnen verabschiedet, er wolle nur kurz
an den Strand des Meeres, und hat sie geheissen, auf ihn zu warten. Er
ist nicht fortgegangen; dass er, ein Todter, mitten unter ihnen sitzt,
wissen die Blinden nicht. In bangem Harren, in müssigem Schwatzen,
in kleinlichem Hadern wider den Todten, dass er sie allein gelassen,
vergeht ihnen die Zeit. Wo sie sind, wissen sie nicht, nicht, welche
Zeit es ist. Vom Hospital schlägt es Zwölf. Ist’s Mittag oder Mitter-
nacht? Die Sterne zu ihren Häuptern können sie nicht sehen; nur das
ferne und leise Rauschen des Meeres hören sie. Von der Stelle wagen
sie sich nicht, harrend sitzen sie, geängstigt durch den Flug der Wander-
vögel, der durch die Lüfte braust, durch den Windstoss, der dürre
Blätter auf sie herniederwirft. Lauter gegen die Klippen donnert das
Meer, Ein Tappen naht sich von fern — der Hund des Hospitals
ist’s; er könnte sie retten, aber sie wagen nicht, ihren Platz zu ver-
lassen. Der Hund zieht einen der Blinden bis zu der Leiche des todten
Priesters; unter unbeschreiblichem Grausen erkennen sie tastend den
Todten. Angst, Jammer und Wehklagen: die Hoffnung ist geschwunden,
Niemand wird sie holen, denn Niemand vermisst sie; trostloser Unter-
gang steht ihnen bevor. Es wird kalt, eisig kalt, näher und näher
kommt das dumpfe Brausen der Wogen, hoch rauschen die Blätter
wild im Sturm. Schritte ertönen und kommen näher. Es beginnt zu
schneien. Und wieder die Schritte. Das sehende Kind der einen Blinden
fängt an zu weinen. Es muss also etwas sehen. Und die Schritte sind
ganz nahe, ein Gewand raschelt in den dürren Blättern. »Halte das
Kind empor!« schreien sie in Todesangst der Mutter zu, »damit es
sehen kann!« »Die Schritte haben Halt gemacht unter uns! Sie sind
hier. Sie sind mitten unter uns.« »Wo bist du?« Schweigen. »Erbarmen!«
Mit diesem gellenden Schrei der Todgeweihten, mit dem verzweifelten
Weinen des Kindes schliesst das Stück.
In der Studie »Intérieur« 1) steht gleichfalls der Tod im Mittel-
punkte des Interesses. Durch die erleuchteten Fenster des Erdgeschosses
1) Aus »Trois petites drames pour Marionettes«.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 808, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0808.html)