Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 809
Maurice Maeterlinck (Bornstein, Dr. Paul)
Text
blicken wir in ein friedliches Heim. Vater, Mutter und Schwestern
sitzen, lesend und mit Handarbeiten beschäftigt, beieinander — ein
Bild vollster Ahnungslosigkeit. Aber im Garten steht bereits der Fremde,
der die Leiche der einen von den Schwestern — man wähnt sie auf
Besuch — aus dem Wasser gezogen, in das sie sich selbst gestürzt
hat; er verhandelt mit dem Greise, der die schwere Aufgabe auf sich
genommen, die Todesnachricht zu überbringen. Der Greis tritt ein;
ein Augenblick noch — und wo Friede und Glück wohnten, sehen wir
jetzt, innen durch die erleuchteten Fenster lähmende Schrecken,
grausiges Entsetzen, unendlichen Jammer. Die Wirkung einer plötzlichen
Todesbotschaft auf ahnungslose Menschen bildlich darzustellen, war hier
die voll erreichte Absicht des Dichters.
Grelle Todesschauer umwittern auch das Marionettendrama »La
Mort de Tintagiles«. Im hohen Thurm des unheimlichen Schlosses
sitzt die gespenstige Königin — ein Symbol des Schicksals, sichtbar nur
den düstern Weibern, die als Todesengel ihre Blutbefehle vollführen.
Mord brütet sie jetzt gegen den Knaben Tintagiles, den sie vom Auslande
zu sich berufen; sie fürchtet in ihm den Prätendenten. Des Knaben
Schwestern, Ygraine und Bellangère, sowie Aglovale, der Greis, drei
Ohnmächtige vereinen sich zum Schutz des Bedrohten. Seit seiner An-
kunft ahnt der Knabe dumpf seinen Tod. Es ist da eine geheimnissvolle
Thür, die sich nie öffnet; der Schlüssel ist verloren, keiner weiss, wohin
sie führt. — Nachts. — Im Gemache schlummern die beiden Schwestern,
zwischen ihnen und von ihrem Lockenhaar umwunden liegt Tintagiles.
Langsam, langsam und geräuschlos öffnet sich die seltsame Thür; drei
finstere Weiber treten heraus und schreiten ins Schlafgemach. Einen
Augenblick später kommen sie zurück; auf ihren Armen den noch vom
abgeschnittenen Lockenhaar der Schwestern umwundenen Knaben. Vom
Schreien des Entführten erwachen die Schwestern; Bellangère stürzt
ohnmächtig auf der Schwelle nieder, während Ygraine dem Schall der
Stimme nachstürzt. Sie kommt, als gerade mit dumpfem Krach die
geheimnissvolle Thür vor ihr zuschlägt. Ygraine sucht nach dem Bruder.
So kommt sie an eine andere Eisenthür unter düsteren Mauergewölben.
Da sie in der Verzweiflung gegen die Thüre schlägt, hört sie ein
Pochen von der anderen Seite. Tintagiles ist’s. »Oeffne,« schreit der
Knabe, »öffne! Es ist hinter mir.« (Elle — la reine; oder — la mort.) Das
Mädchen rüttelt und reisst an der Thür; vergebens — sie ist uner-
schütterlich. Tintagiles schluchzt verzweifelt: Ygraine schlägt wie wahn-
sinnig mit der Lampe gegen die Thür, sie zerbricht und erlischt.
Dunkel, schweres Dunkel. Nur das Stöhnen der Schwester auf der einen,
das immer schwächer werdende Wimmern des Knaben auf der anderen
Seite. Es ist keine Hilfe. Von jenseits der Thür ein dumpfer Schlag,
der Schall eines schwer aufschlagenden Körpers. Rasende Angstschreie,
flehentliche Bitten, an die unsichtbaren Mörder gerichtet, entquillen dem
Munde des Mädchens. Dann — ein langes, furchtbares Schweigen.
»Ungeheuer!« schreit die arme Schwester noch einmal auf, ehe sie kraftlos
in sich zusammenbricht. Die Scene packt mit unwiderstehlichen Erschütte-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 809, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0809.html)