Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 810
Maurice Maeterlinck (Bornstein, Dr. Paul)
Text
rungen; in Stimmung und Zweitheilung der Scene erinnert sie an die Mord-
scene in »Princesse Maleine«. Jene wie diese — nur ein Maeterlinck
konnte sie schaffen.
Ein Räthsel, wie Tod und Leben, ist für Maeterlinck auch die
Liebe. Auch sie ist eine der elementaren Formen des Verhängnisses,
gegen das kein Sträuben gilt. Liebe bedeutet das mystische Zueinander-
streben zweier zur Vereinigung vom Schicksal prädestinirten Wesen. So
finster und furchtbar Maeterlinck’s Todesdrama, so still und ersonnen,
so traurig süss, so träumerisch mild sind seine Dramen der Liebe.
In »Pelleas und Melisande«1) gibt er uns die Mär von der
verbotenen Liebe. Golaud hat Melisanden im Walde gefunden, sie zu
der Seinen gemacht und an den Hof seines Grossvaters, des Königs
Artel, gebracht. Hier begegnet sie Golauds jüngerem Bruder Pelleas,
und sogleich fühlen sich Beide unwiderstehlich zu einander gezogen —
anfänglich wie Kinder, in vollster Unschuld, sich selbst nicht Rechen-
schaft über ihr Empfinden gebend. Aber unheilvolle Zeichen warnen
und wecken dumpfes Bewusstsein der Schuld. Golauds Verdacht wird
rege, er beobachtet die Beiden. Herrlich ist diese Scene: Melisande
oben am Burgfenster, unten auf der Brustwehr Pelleas; tief beugt sich
Melisande im Liebesgespräch nieder; da fluthet ihr wundervolles Haar
vornüber und hüllt den Entzückten in einen seidenen Mantel; er umarmt,
er streichelt, er küsst das Haar, und da er es eben im Scherz an einen
Weidenbaum geknüpft, erscheint Golaud. Sein kurzes Warnwort kann das
Verhängniss so wenig aufhalten, wie ein zusammen mit Pelleas unter
sehr bezeichnenden Begleitworten unternommener Gang durch die ver-
pesteten Grotten des Schlosses. Einmal weiss Golaud seinen Bruder im
Zimmer Melisandens; nicht gross genug, um von der Brustwehr aus
hineinsehen zu können, hebt er sein Söhnchen hoch und lässt sich von
diesem berichten: Das Kind sieht nur zwei trostlos ins Licht starrende
Menschen. Sie wollen sich trennen: Pelleas will fort, um kein Unheil
heraufzubeschwören. Nur einmal noch wollen sie sich sehen. Bei diesem
letzten Stelldichein überrascht sie abermals Golaud, er stösst Pelleas
mit dem Schwerte nieder und verwundet Melisanden — leicht, ganz
leicht. Aber auch diese leichte Wunde des Schicksals wird tödtlich bei
Melisande. Der letzte Act zeigt sie uns auf dem Todtenbette, sie hat
noch einem kleinen Mädchen das Leben gegeben — dann stirbt sie —
leise, geräuschlos, demüthig, wie ein Blümchen, das den Kopf neigt,
wie ein Licht, das erlischt. Still, wie ihr Leben, ist ihr Tod — es ist
ein Sterben in Schönheit, in einer rührenden Schönheit und eine so
ganz andere als die bacchisch jubelnde einer Hedda Gabler.
Verwandte Empfindungen weckt »Alladine und Palomides«.2)
Die Leser dieser Zeitschrift kennen das Stück; ich darf mich kurz
1) Verlag von F. Schneider & Co., Berlin 1897. Deutsch von G. Stock-
hansen, eingeleitet von Maximilian Harden.
2) »Trois petits drames pour Marionettes.« Deutsch in der »Wiener
Rundschau«.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 810, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0810.html)