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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 811

Text

MAURICE MAETERLINCK. 811

fassen und mich begnügen, auf den wundersamen Zauber der Grotten-
scene nachdrücklich zu verweisen. Im Kerker der meerumflutheten
Grotte finden sich die Liebenden wieder, sie reissen die Binden von
den Augen und finden sich inmitten magischen Glanzes: mit blauem,
zauberhaftem Licht übergiesst das schimmernde Meerwasser Alles
ringsher, höchste Liebesseligkeit romantisch-symbolisch verklärend. Jähe
Schritte von oben, die Retter sind’s — grell und fahl bricht das Licht
des Tages herein, der magische Glanz erbleicht, das Paradies versinkt
in kalte und starrende Oede. So tödtet erbarmungslos das grelle Licht
der Wirklichkeit zwei Herzen, indem es ihnen die Träume tödtet, in
denen sie glücklich waren. Vergiftet sterben sie hin, von Zimmer zu
Zimmer mit letzten Rufen einander suchend. Es ist das stille Sterben
Melisandens, ein leises Hinübergleiten in ein besseres Jenseits: »es war
das Licht, das kein Erbarmen gehabt«.

Tiefer noch angelegt ist das herrliche Drama »Aglavaine und
Sélysette«, dessen Dialog nur hie und da an einer gewissen philo-
sophischen Hypertrophie krankt. Zwei Frauen stehen einander gegen-
über rivalisirend um die Liebe des Mannes, der, haltlos schwankend,
zwischen ihnen steht. Sélysette ist ein frohes, liebenswürdiges, aber un-
bedeutendes Geschöpf, bis Aglavaine in ihren Kreis tritt und, ohne es
zu wollen, ihren Gatten an sich fesselt. Im Schmerz reift Sélysette
heran, im Schmerz erschliessen sich die Tiefen ihrer Seele. Die Seelen-
schönheit Aglavaines weckt die ihre. Aus den Rivalinnen werden
Freundinnen, die — jede der anderen — das Opfer ihrer Liebe
bringen wollen. Wundervoll sind diese zwei Frauenseelen gezeichnet.
Im Ringen um den Preis innerer Schönheit siegt die arme, kleine
Sélysette über die ernste und hochgemuthe Aglavaine. Diese will ab-
reisen; Sélysette aber fasst den Plan, sich selbst dem Glück der an-
deren aufzuopfern. Sie will sterben. Bei Tag steigt sie mit der kleinen
Schwester auf den Thurm, zu dem sie den goldenen Schlüssel wieder-
gefunden — aber sie kann es nicht; die Sonne scheint so golden, und
die Blumen duften so hell — die Stimme des Lebens ist noch zu
mächtig in ihr. So geht sie unbeugsamen Willens des Nachts. Da die
langen Schatten sinken und der letzte Strahl der Sonne verblichen,
findet sie den Muth des Todes. Und noch dem Tod lügt sie ins
bleiche Gesicht: gestürzt sei sie, nicht habe sie sich hin abgeworfen.
Sie will die Geliebte vor der Qual des Gewissens bewahren. Es ist
das Lied von der entsagenden Liebe in seiner Reinheit und unend-
lichen Trauer.

Ein Träumer ist Maeterlinck und ein Phantast. Eine dunkel-
glühende und suchende Seele. Ein Sohn des Fin de siècle mit leise
schwingenden, saugenden Nerven. Ein Primitiver nicht aus Naivetät,
sondern aus Raffinement. Worte fand er, die keiner sprach, über
Dinge, die keiner je vor ihm geschaut, Wirkungen, die keiner erzielt,
mit Mitteln, die so keiner gebraucht. Keinem hat er zu danken, dieser
Seelenkünder, er ist selbsteigen und original durchaus. Er steht allein:

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 811, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0811.html)