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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 812

Text

812 BORNSTEIN.

unerreicht trotz allen Nachahmern. Ist seine Poesie krank? Man kann
es nicht sagen. Ist sie gesund? Nimmermehr! Die Mitte zwischen
Krankheit und Gesundheit hält sie: sie ist nicht mehr krank wie die
Decadenz, die Maeterlinck überwunden; sie ist noch nicht gesund —
sie ist zu künstlich, zu mönchisch-christlich, zu mystisch, um gesund
zu sein, aber sie tendirt zu einer neuen Gesundheit. Reconvalescenten-
poesie hat sie Harden genannt; Maeterlinck steht «auf halber Höhe des
Berges, dessen Scheitel eine neue Sonne krönt«. Einer neuen Schönheit,
einer neuen Natur ringt er entgegen mit neuen Mitteln; ein echter
Schöpfer, baut er vor uns eine neue Welt auf. Vielleicht ist diese
Schönheit künstlich: was thut’s? Jede Schönheit ist Erlösung in dieser
Zeit, die so rauh, diesem Leben, das so unkünstlerisch ist. Maeterlinck
ist ein Poet nicht für die Vielzuvielen, aber für die Aristokraten des
Geistes und der Seele, die selber feine Nerven haben und Tiefen und
Höhen wie er; für die Empfindenden und Suchenden, denen es noch
Räthsel gibt. Die Protzen des Verstandes, die an den Fingern ab-
zählen und es so herrlich weit gebracht haben, können ihn nicht
fassen. Wir Jüngeren aber, da wir ihn haben und verstehen, lassen
ihn uns nicht mehr nehmen; wir fühlen: unsere tiefsten Empfindungen
sind es, denen er die Lippe löst; unsere feinsten und besten Geheim-
nisse sind es, deren Mitwisser er ist. Und da er wie kein Zweiter
mit uns und in uns zu leben weiss, wie sollten nicht auch wir mit ihm
und in ihm leben?


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 812, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0812.html)