Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 807

Emerson (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 807

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EMERSON. 807

unserer täglichen Seele. Den ewigen Charakter von Marc Aurel’s Ge-
danken werdet ihr hier nicht finden. Aber Marc Aurel ist der reine
Gedanke. Wer von uns übrigens führt das Leben Marc Aurel’s? Hier
haben wir den Menschen und nicht mehr. Er ist nicht willkürlich ver-
grössert; nur ist er näher von uns als gewöhnlich. Da ist Johann,
der seine Bäume beschneidet, Peter, der sein Haus baut, ihr, die ihr
nur von der Ernte sprecht, da bin ich und gebe euch die Hand;
aber wir sind auf den Punkt gestellt, wo wir an die Götter hinan-
reichen, und wir staunen über das, was wir thun. Wir wussten nicht,
dass alle Mächte der Seele gegenwärtig waren, wir wussten nicht, dass
alle Gesetze des Weltalls um uns herum warteten, wir wenden uns
um und blicken uns wortlos an wie Leute, die ein Wunder ge-
sehen haben.

Emerson kam und bestätigte schlicht diese gleiche und ge-
heime Grösse unseres Lebens. Er hat uns mit Schweigen und Bewun-
derung umgeben. Er hat einen Lichtstrahl gesandt auf den Weg des
Handwerkers, der aus der Werkstatt tritt. Er hat uns gezeigt, wie alle
Kräfte des Himmels und der Erde beschäftigt sind, die Schwelle zu
erhalten, auf der zwei Nachbarn vom herabfallenden Regen oder dem
steigenden Winde sprechen, und lässt uns über zwei Menschen, die sich
auf der Gasse ansprechen, das Antlitz eines Gottes sehen, der einem
Gotte zulächelt. Näher als irgend Einer steht er unserem gewöhnlichen
Leben. Er ist der aufmerksamste, eifrigste, ehrlichste, gewissenhafteste,
vielleicht menschlichste Warner. Er ist der Weise des Alltags, und das
Alltägliche ist im Grunde genommen das Mark unseres Wesens. Mehr
als ein Jahr verstreicht ohne Leidenschaften, ohne Heldenthaten, ohne
Wunder. Lehrt uns, die kleinen Stunden des Lebens zu ehren. Wenn
ich heute Morgens nach dem Geiste Marc Aurel’s zu handeln imstande
war, betont nicht meine Thaten, denn auch ich weiss, dass etwas ge-
schehen ist. Aber wenn ich meinen Tag in nichtswürdigen Unter-
nehmungen verloren zu haben glaube und ihr mir beweisen könnt,
dass ich dennoch so tief gelebt habe wie ein Held und meine Seele
ihre Rechte nicht verloren hat, dann werdet ihr mehr gethan haben,
als wenn ihr mich dazu gebracht hättet, heute meinen Feind zu retten;
denn ihr habt in mir die Stärke, die Grösse und die Bejahung des
Lebens erhöht; und morgen vielleicht werde ich mit Ehrfurcht zu leben
wissen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 807, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0807.html)