Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 806
Text
und hat Vertrauen in das Mysterium. Man muss leben; ihr Alle müsst
es, die ihr Tage und Jahre verbringet ohne Thaten, ohne Gedanken,
ohne Licht, weil euer Leben trotz Allem unbegreiflich und göttlich
ist. Man muss leben, weil Niemand das Recht hat, sich den geistigen
Ereignissen der regelmässig dahinfliessenden Wochen zu entziehen. Man
muss leben, weil es keine Stunde ohne innere Wunder und unaus-
sprechliche Bedeutungen gibt. Man muss leben, weil es keine That,
kein Wort, keine Geberde gibt, die in einer Welt, wo »viel zu thun
und wenig zu wissen ist«, den unerklärlichen Rückforderungen ent-
ginge.
Es gibt kein grosses und kein kleines Leben, und die That des
Regulus und des Leonidas ist ohne Belang, wenn ich sie mit einem
Augenblick der geheimen Existenz meiner Seele vergleiche. Sie kann
thun oder nicht thun, was sie gethan haben, diese Dinge reichen
nicht an sie heran, und die Seele des nach Carthago heimkehrenden
Regulus war wahrscheinlich ebenso zerstreut und gleichgiltig als die
des Arbeiters, der in die Fabrik geht. Sie steht allen unseren Hand-
lungen, allen unseren Gedanken zu weit. Sie lebt einsam am Grunde
unseres Wesens ein Leben, von dem sie nicht spricht, und die Mannig-
faltigkeit der Existenzen ist nicht zu erkennen von den Höhen aus,
wo sie herrscht.
Wir gehen gebeugt unter der Last unserer Seele, und es gibt
kein Verhältniss zwischen ihr und uns. Sie denkt vielleicht nie daran,
was wir machen; das ist auf unserm Antlitz zu lesen. Wenn man
einen Geist aus einer anderen Welt fragen könnte, welchen Ausdruck
das Gesicht der Menschen im Ganzen genommen hat, würde er wohl,
nachdem er sie in ihren Freuden, ihren Schmerzen und ihren Auf-
regungen gesehen hat, antworten: »Sie sehen aus, als ob sie an etwas
Anderes dächten.« Seid gross, seid weise und beredt; die Seele des
Armen, der an der Brückenecke die Hand ausstreckt, wird nicht eifer-
süchtig sein, aber eure Seele wird vielleicht die seine um ihr Schweigen
beneiden. Der Held braucht den Beifall des gewöhnlichen Menschen,
aber der gewöhnliche Mensch verlangt nicht den Beifall des Helden;
er verfolgt sorglos seinen Lebensweg wie Jemand, der alle seine Schätze
an sicherem Orte hat. »Wenn Sokrates spricht,« sagt Emerson, »schämen
sich Lysis und Menexenes nicht ihres Schweigens. Auch sie sind gross.
Und Sokrates beruft sich auf sie und liebt sie, während er spricht,
weil jeder Mensch in sich selbst die Wahrheit trägt, ja die Wahrheit
ist, der ein beredter Mann Ausdruck verleiht. Aber es scheint, dass
die Wahrheit in diesem beredten Manne, eben weil er sie ausspricht,
schon nicht mehr ihren so sicheren Sitz hat, und deshalb wendet er
sich mit grösserer Achtung und Verehrung diesen wunderbaren Schwei-
genden zu.«
Der Mensch lechzt nach Erklärungen. Man muss ihm sein Leben
zeigen. Er freut sich, wenn er irgendwo die genaue Auslegung einer
geringfügigen Geberde findet, die er vor 25 Jahren gemacht hat. Hier
gibt es keine zu geringen Geberden; wir finden fast alle Stellungen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 806, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0806.html)