Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 794
Text
die neue Platte ein, die er sich neulich von zusammengesparten Pfennigen
angeschafft hatte.
Ein Walzer. Merkwürdig, die Melodie kam ihm bekannt vor. Wo
hatte er sie doch gehört? »Liebesklänge« stand auf der Platte. Aber um
die Titel hatte er sich nie bekümmert. Er wiederholte das Stück zum
zweitenmal, zum drittenmal.
Nun erst stieg langsam, verschwommen das Bild der Erinnerung
auf. Er sah die verregnete Strasse wieder, sah das unsichere Licht in
den Pfützen, und das schwarzweisse Schilderhaus, an dem er, damals
noch Avantageur, auf- und niedertappte, auf und nieder.
Es war erst elf Uhr Abends gewesen, und doch hatte er sich
müde gefühlt. Hinter ihm lag eine Ballnacht, und er hatte ausgehalten
bis zum Morgen. Sie war ja dagewesen, sie
In die Züge des Alten schlich es sich wie Bitterkeit. Er konnte
sich die Gegensätze nicht erklären. Was war sie damals gewesen, und
was war sie heute! Und er selbst, wie hatte er sich verändert! Sie so
schmächtig, fast leidend, dass er sich ernstlich fragte, ob nicht seine
Natur für sie zu derb sein könnte. Und dann die langsame Wandlung
in den 36 Jahren ihrer Ehe. Er war es, den diese Ehe zerrieben hatte,
und sie war gesundet mehr und mehr die Jahre hindurch. War ihm
nicht seine Lebenskraft gestohlen worden? Gestohlen von ihr? War das
bleiche, ätherische Mädchen jener fernen Ballnacht nicht eine Betrügerin?
Er dachte an ihre Stimme. Diese scheue, fragende Mädchenstimme damals,
und das schrille Organ jetzt. Welche Kraft hatte es geschwellt?
Die Arabesken der Melodie rankten sich weiter und weiter in
die Stille des Zimmers hinein. Da vergass er allmälig die bitteren Ge-
danken und glitt wieder in die Vergangenheit.
Es war doch ein seltsamer Abend gewesen, die Wache an der
Caserne damals. Fast als ob der Abend seiner unbekümmerten Jugend
zum erstenmale eine ernste Frage vorgelegt hätte, eine Frage des
Lebens, die er überhörte, überhören wollte. War das vielleicht sein
Fluch?
Die Ballnacht hatte ihm noch in den Gliedern gelegen. Er fand
die alte Frische nicht wieder, als er aufzog. Und dabei stürmte und
regnete es so stark, dass der letzte Rest seiner guten Laune gleich
anfangs zum Teufel war.
Da tauchte ein schwarzer Schatten vor ihm auf. Er wollte sein
»Wer da!« brüllen, aber der Schatten redete ihn schon an:
»Sie werden verzeihen, ich wollte bloss fragen, haben Sie heute
Brot bekommen?«
»Was?!«
»Ich meine, ob Sie Brottag gehabt haben?«
Er wollte schnauzig werden, aber die Stimme der Alten vor ihm
hatte etwas so Rührendes, dass er nur griesgrämig wurde.
»Die zweite Compagnie hat Brottag. Aber bei dem Hundewetter
wird schwerlich Jemand kommen.«
»O, ich kann warten, vielleicht kommt doch Jemand.«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 794, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0794.html)