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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 795

Text

DER ALTE OBERST. 795

Dann ging sie auf die andere Strassenseite unter eine Traufe,
rollte die Hände in ihre Schürze und — wartete.

Wie deutlich er Alles wiedersah! Wenn er hinaufging, zum
Exercirplatz hin, konnte er nichts unterscheiden, weil der Regen ihm
gerade ins Gesicht trieb. Aber beim Niedergehen hatte er freies Ge-
sichtsfeld. An der Strassenecke brannte eine einsame Laterne. Bei
jedem Windstoss flackerte sie, als ob sie ausgehen wollte. Das sah
sich dann an, als ob die Häuser, die sie beleuchtete, sich duckten
und wieder streckten, immer wieder, wie die Windstösse kamen und
gingen.

Und im Licht dieser einsamen Laterne sah er das Gesicht der
Alten hinüberstarren zur Caserne und lauern auf einen Mann der
zweiten Compagnie.

Er ärgerte sich. Da liess das Weib sich nassregnen und riskirte
alle möglichen Krankheiten, um einen Groschen zu sparen. Denn billiger
verkauften ihr die Leute der zweiten Compagnie das Brot auch nicht.
Zu blödsinnig! Und wäre sie mindestens sicher gewesen, dass über-
haupt Jemand kam! Aber er hatte sie ja gewarnt.

Er pfiff eine Melodie vor sich hin. Von der letzten Nacht her
war sie ihm im Kopf geblieben. Es war dieser Walzer, diese weiche
Melodie »Liebesklänge«. Einzelne Bilder der Nacht stiegen vor ihm
auf. Er sah die Augen seiner künftigen Braut; sie schienen ihn zu
bitten. Dann sah er wieder das Weib an der Mauer. Sie rührte ihn
mit ihrem stieren Blick und ihren vermummten Händen. Er wollte zu
ihr hin und ihr einige Groschen geben, »für die Kinder«.

Schon stand er nur wenige Schritte vor ihr. Jetzt erst sah er sie
genauer. Sie musste einmal schön gewesen sein.

Und nun kam dieser seltsame Augenblick. Er wusste nicht weshalb,
aber er musste plötzlich an die denken, in der sein Leben ihm ver-
klärt schien.

Der Gedanke erschreckte ihn. Wie eine Warnung stand die Alte
vor ihm. Wovor sie ihn warnen wollte, wusste er nicht. Er wusste nur,
dass sie ihm mit einem Schlage sehr widerlich erschien und dass er
an seinen Posten zurückging, ohne ihr etwas gegeben zu haben.

Die graue Elendstimmung hielt an. Er dachte an das Leben, das
die Alte drüben hinter sich haben mochte, und es schien ihm auf eine
räthselhafte Weise verwandt dem seinen, das doch erst beginnen sollte.

Dann löste sich aus dem Wirrwarr seiner Stimmung der erste
klare Gedanke. Wie er selbst mechanisch auf und nieder ging, auf und
nieder, sah er hinter der niedrigen Stirn der Alten einen und denselben
Gedanken unermüdlich auf und nieder gehen, auf und nieder, den einen
Gedanken, einige Pfennige zu sparen.

Und bei alledem die fixe Idee, die ihn verfolgte, die »Liebes-
klänge«. Ja, die Alte musste auch mal jung gewesen sein, und getanzt
hatte sie auch einmal. Und als sie das that, hatte sie ein Leben vor
sich, so reich an allen Möglichkeiten, wie Jugend und Schönheit sie
nur haben können. Aber dann kam das Leben über sie und nahm die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 795, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0795.html)