Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 734
Text
märchenhaften Rückzuge durch die Syrische Wüste (77 Meilen Wüste
in 25 Tagen) alle Officiere zu Fuss gehen sollten, brach er auf die
Frage, welches Pferd er für sich gewählt habe, zornig los: »Sagt’ ich
nicht, dass Alle zu Fuss geh’n?!« Man kennt die Charakterhoheit des
Mannes nicht, wenn man nicht in der »Correspondence d’Egypte« in
allen Tonarten las: »Wir würden verzweifeln, wenn wir nicht wüssten,
wer an unserer Spitze steht.« »In all unserer Noth setzen wir unsere
Hoffnung einzig auf ihn.« Die Geschichte hat nichts Aehnliches, weder
im Alterthum noch in Drangsalen Friedrich des Grossen. Selbst die
kühlsten Skeptiker können sich hier einer Neigung zum Napoleon-
Mythos nicht erwehren, es weht sie ein ehrfürchtiger Schauer an. Denn
wie ein Gott schritt der kleine, bleiche Corse durch diese Hölle unsäg-
lichen Elends und suchte der afrikanischen Sphinx ihr Geheimniss ab-
zufragen. Ueber die läppische Kinderei, die sein endliches Enteilen
nach Frankreich nach dem sicheren Siege von Abukir als »Desertiren«
schmäht, gehen wir schweigend weg, wie über den neuerdings sogar in
Militärwerken auftauchenden lächerlichen Vorwurf, er habe dem armen
Desaix seinen Ruhm bei Marengo gestohlen. (Als ob Desaix nicht bloss
die selbstverständliche Pflicht eines Unterführers erfüllt und Napoleon
nicht allein den strategischen Erfolg der Katastrophe geschaffen hätte!)
Ohne persönliche Aufopferung als Vorbild hätte Bonaparte nie eine solche
Macht über den trotzigen Egoismus seiner Leute gewonnen, bis zuletzt,
wo die jungen Conscribirten von 1814 murrend vom Pfluge fort-
getrieben, sich zu fanatischen Kaisergläubigen verwandelten, sobald der
kleine Mann wie ein elektrischer Sturmwind durch ihre Reihen fuhr,
bis 1815, wo Festungen und Regimenter bei seinem Anblicke sich ihm
zu eigen geben und eine ganze grosse Culturnation sich wie im Veits-
tanz dreht: Er ist wieder uns! Stellt doch ein ruhiger Beobachter
fest: »Napoleon fut jusqu’au dernier moment le roi du peuple« und
der Engländer Napier »Nie vor und nach ihm wurde ein Monarch
geliebt wie er«, muss doch selbst Talleyrand bestätigen, dass 99 Percent
der oft unzufriedenen Franzosen dennoch nichts anderes wünschten als
das Empire. Doch wir wollen uns nicht länger mit den bedenklichen
Staatsanwaltskniffen der Anti-Napoleon-Legende aufhalten, die nur be-
stochenste Zeugen, wie die verdächtige Remusat (Rache eines ver-
schmähten Frauenherzens) zu Worte kommen lässt, und lieber den
Napoleon-Vers Goethe’s zur Richtschnur nehmen: »Das Kleinliche ist
Alles weggeronnen«. Wie der Brutalste der Brutalen, der wilde Hüne
Vandamme »Nervenzittern kriegte, wenn ich vor diesem Teufelskerl
stehe, der kann mich durch ein Nadelöhr jagen«, so schrumpfte alle
Materie gleichsam zwerghaft ein vor diesem bändigenden Hypnositeur,
die Welt kroch ins Mauseloch vor diesen hastigen Kanonenstiefeln.
Er war ein Parvenu, ohne Zweifel. Er war Er, und er wollte
Kaiser heissen, der »Knirps mit dem zerrauften Haar«. Aber reifte denn
die Menschenheerde schon so weit, dass sie dem Leithammel ohne
äusserliche Insignien folgt? Die überwiegende Mehrheit des republikani-
schen Frankreich begrüsste es mit Genugthuung, dass der neugefundene
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 734, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0734.html)