Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 727
Text
In Maeterlinck’s Dramen geschieht wenig; die Grundidee ist meist
wenig ergiebig; die äussere Handlung geringfügig. Unmerklich fast,
langsam und mit müdem Schritt rückt sie vor. Aber dieses müde Vor-
rücken erzeugt gleichwohl auf seelischem Gebiete eine Spannung, die,
zunächst jenseits der Schwelle des Bewusstseins bleibend, dann als
dumpfe Ahnung hervortretend, durch das Eingreifen der geheimniss-
vollen Kräfte alsbald verhundertfacht wird. Folgen die physischen Vor-
gänge einander in arithmetischer, so die psychischen in geometrischer
Progression. Wo die beiden Reihen einander berühren, sprühen
elektrische Funken. Bis dass die Spannung auf seelischem Gebiet im
Herannahen des Fatums so ungeheuer wird, dass aus dumpfer Schwüle
in donnernder Detonation der Blitz zuckt, der, in die Welt der Körper
hinüberschlagend und diese in jähe Flammen setzend, die grause Kata-
strophe auslöst. Maeterlinck’s Tragik ist nicht laut und lärmend, sie
ist still und demüthig; aber sie ist düster und geheimnissvoll und
furchtbar in ihren spärlichen Höhepunkten. Sie gleicht den dunklen
Wassern, deren glatter und ruhiger Spiegel ihre abgründige Tiefe nicht
ahnen lässt. Aber lasset nur das Verhängniss, das am Ufer kauert,
ein Sternchen in die Fluth stossen, und jählings, wie in einem siedenden
Kessel, schäumt es auf in wilden Wellen und weissem Gischte. Und im
brandenden Gewoge dieser brausenden Fluthen Menschen ringen zu
sehen — schuldlose Menschen, in stummem, in aussichtslosem Kampf
— das ist ein Schauspiel so herzzerreissend und erschütternd, dass es
die Seele des Zuschauers wie mit eisernen Krallen in ihren tiefsten
Tiefen packt.
Wem es aber gelingt — gleichviel wie — unsere Seelen so in
den Bann seiner Eigenart — gleichviel welcher — zu schlagen, dass
wir uns widerstandslos dem Reiz einstürmender Gefühle ergeben müssen,
dem schulden wir den Kranz; der ist ein echter Künstler.
(Schluss folgt.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 727, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0727.html)