Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 726

Maurice Maeterlinck (Bornstein, Dr. Paul)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 726

Text

726 BORNSTEIN.

Die Eigenart Maeterlinck’scher Dramatik beruht nicht zuletzt
auf dem völligen Fehlen aller derjenigen Elemente, die eine Schul-
definition als für das Drama unumgänglich nöthig bezeichnen würde.
Handlung, gesteigerte Handlung, Kampf des Individuums gegen eine
einengende Allgemeinheit, scharfe und allseitige Charakteristik, Wider-
streit der Leidenschaften — von diesen für eine Bühnenwirkung un-
erlässlichen Bedingungen erfüllt Maeterlinck kaum eine. Er verschmäht
es, sie zu erfüllen. Der Rampen grelles Licht schreckt diesen so fein-
nervigen, lauten und vergröberten Effecten gänzlich abholden, nur auf
intimste Wirkungen bedachten Poeten und stösst ihn ab. Das Theater
hat kein Recht auf Maeterlinck, weil es ihm keines einräumt. Hand-
lung und Leidenschaft — was bedeuten diese anachronistischen Forde-
rungen des heutigen Theaters? Decorative Oberfläche und die Psychologie
dazu. Und die Tiefen??! Auf der Bewegtheit der Anekdote ruht das
Hauptgewicht der heutigen Dramatik. Muss denn aber wirklich ge-
schrien und getobt, müssen wir mit zuckenden Nerven durch fünf
barbarische Acte gepeitscht werden? Was können mir Wesen von ihrem
wahren Sein sagen, die gar keine Zeit zum Leben haben, weil sie an
der fixen Idee leiden, unbedingt einen Rivalen oder eine Geliebte
tödten zu müssen? Die Tragik der Leidenschaft ist für Maeterlinck
keine Tragik. »Es gibt eine Tragik des Alltags, die wahrer, tiefer und
unserem wirklichen Wesen mehr entsprechend ist als die Tragik der
grossen Abenteuer Es gibt tausend und abertausend mächtigere und
verehrungswürdigere Gesetze als die Leidenschaften, aber diese lang-
samen, verschwiegenen und geheimnissvollen Gesetze — man hört und
fühlt sie, wie Alles, was mit unwiderstehlicher Gewalt begabt ist, nur
in der Dämmerung, in der Sammlung ruhiger Lebensstunden.« Unter
dem Gesichtspunkt dieser höheren Tragik das Menschenleben darzu-
stellen, das ist die Aufgabe der wahren Tragödie. Es handelt sich
darum, das Leben der Seele inmitten einer ständig
eingreifenden Unendlichkeit zu schildern
; es handelt
sich darum, jenseits des Dialogs von Mund zu Mund und ober-
halb der Zwiesprach zwischen Vernunft und Empfindung den feier-
lichen Dialog zwischen einem Wesen und seinem
Schicksal
zu geben. Das Walten geheimer, ewiger Gesetze am
Menschen darzuthun, das ist der Gipfel Maeterlinck’schen Kunst-
strebens. So wandeln sich mystisch-metaphysische Dogmen zu ästhetischen
Forderungen.

Auch bei Shakespeare, der Maeterlinck’s Dramatik in ihren An-
fängen entscheidend beeinflusst hat — von Hamlet zur »Princesse Ma-
leine« ist’s ein gerader Weg — finden wir Perspectiven der Ewigkeit. Ueber
Hamlet, Lear und Macbeth lebt und webt das Ewige, das Unendliche.
Aber es bleibt im Hintergrunde, es bleibt Horizont. Im Vordergrunde
stehen, frei handelnd, die mächtigen Persönlichkeiten. Umgekehrt bei
Maeterlinck: der Mensch, unfrei und unverantwortlich, tritt zurück;
im Vordergrunde steht das Geheimnissvolle, dessen Darstellung
Selbstzweck wird
.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 726, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0726.html)