Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 725

Maurice Maeterlinck (Bornstein, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 725

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MAURICE MAETERLINCK. 725

uns leben lässt und deren stumme und unbewusste Sclaven wir sind.«
Mit eiserner Faust gelenkte Sclaven sind wir; nicht in unserer Brust
ruhe unseres Schicksals Stern; droben strahlen sie — einsam, unnahbar,
unerbittlich. »Den Spuren des Schicksals nachgehen, heisst das nicht
auf den Spuren menschlicher Trauer wandeln? Es gibt kein Schicksal
der Freude und keinen glücklichen Stern.« »Was ist Schicksal? Keiner
weiss es. Nur ein Zipfel des Tuches ist gehoben — wir ahnen den
Einfluss der Todten und der noch nicht Geborenen. So leiten uns
Vergangenheit und Zukunft, und die Gegenwart, die unsere Substanz
ist, sinkt auf den Grund des Meeres — eine kleine Insel, die er-
barmungslos zwei unversöhnliche Oceane benagen.« »Der Tod leitet
unser Leben, und unser Leben hat kein anderes Ziel als den Tod.«
Ein Zug von düsterem Fatalismus gibt der seltsamen Weltanschauung
dieses grüblerischen Phantasten bezeichnenden Abschluss; mystischer
Fatalismus — das ist der Grundzug auch der Maeterlinck’schen Poesie.

Mit lyrischen Gedichten begann Maeterlinck: »Serres chaudes«,
deutsch etwa »Treibhauspflanzen«. Ein guter, weil bezeichnender Titel.
Es sind durchaus Erzeugnisse einer überhitzten und emporgetriebenen
Phantasie. Tastende Schöpfungen eines dem Neuen ahnungsvoll Zu-
gewandten, der sich selbst noch nicht gefunden hat, der Anlehnung
sucht bei allen erdenklichen Halbgöttern jungfranzösischer Lyrik. Viel
originalitätssüchtige Bizarrerie ist in diesen Gedichten, die, verworren
und häufig unverständlich, gekünstelt und häufig verkünstelt, sich ganz
auf die Impression der Klangwirkung stellen. Sie lassen den künftigen
Maeterlinck kaum ahnen. Der tritt uns weit deutlicher entgegen in den
zwölf jüngst erschienenen »Chansons«, deren Eigenart Charles Doudelet
in meisterlichen Holzschnitten — weiss und schwarz; archaisirende
Strichtechnik von höchster malerischer Wirkung — zu erfassen und
festzuhalten wusste. Um Leben, Liebe und Tod schlingt hier der Poet
seine Klänge in mystischen Arabesken; hier aber finden sich auch
Stücke, die in ihrer schlichten, ich möchte sagen — selbstverständ-
lichen Schönheit, in ihrem völligen Freisein von jeder Pose an die
Perlen Verlaine’s erinnern. So das ergreifende Zwiegespräch zwischen
der verlassenen, sterbenden Geliebten und deren Mutter oder älteren
Freundin: »Et s’il revenait un jour, que faut-il lui dire?« das mit dem
wundervollen Vers schliesst:

— Et s’il m’interroge alors
Sur la dernière heure? —
— Dites-lui, que j’ai souri
De peur, qu’il ne pleure. —

Im Grunde genommen, hat die Lyrik für ein Gesammtbild
Maeterlinck’s nur untergeordnete Bedeutung; sie nährt sich von Stim-
mungen, die weit schärfer und eindringlicher in seinen Dramen wieder-
kehren. Der Dichter Maeterlinck — das ist und bleibt der Dramatiker;
nur in den Dramen findet der Suchende den Poeten in seiner vollen,
unverfälschten Eigenart.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 725, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0725.html)