Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 724

Maurice Maeterlinck (Bornstein, Dr. Paul)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 724

Text

724 BORNSTEIN.

Eingehend hat er sich mit ihnen beschäftigt. Den Vlamen Ruysbroeck
hat er, wie des Novalis’ »Saisschüler« und »Fragmente«, übersetzt und com-
mentirt. Ruysbroeck, Novalis und Emerson, dieser jüngste unter den
Mystikern, haben seine Weltanschauung entscheidend beeinflusst.

Wie alle Mystiker ist Maeterlinck durchaus Immaterialist. Den
zum körperlosen Licht Strebenden lassen die Materie und alle an ihr
haftenden Lebenserscheinungen kalt. Unser Handeln, unsere Leiden-
schaften, unser Denken und Sprechen reizen ihn nicht. Unsere Hand-
lungen sind ihm ephemere Blätter und Blüthen an einem transparenten,
im Centrum unseres Wesens wurzelnden Baum. Wer zu den Wurzeln
will, was kümmern den Blätter und Blüthen? »Wir besitzen ein tieferes
Ich, ein unerschöpflicheres, als das der Leidenschaften und der reinen
Vernunft.« Und ferner: »So lange ich von Tod, Liebe und Schicksal
spreche, erreiche ich Tod, Liebe und Schicksal nicht.« Das Wort
kann die Tiefen des Lebens so wenig ausdrücken, wie der Geist,
der Intellect sie fassen kann. »Der auf sich selbst gestützte Geist ist
eine Localberühmtheit, die den Reisenden lächeln macht. Es gibt noch
etwas Anderes als den Geist — nicht der Geist ist es, der uns mit
dem Universum verbindet. Es ist Zeit, dass man ihn einmal nicht
mehr mit der Seele verwechselt. Es handelt sich nicht um etwas,
das in uns vorübergeht, sondern um etwas, das in uns stabil ist, ober-
halb der Leidenschaften und der Vernunft.«

Fern von unserem Handeln und Denken führt die Seele ein
eigenes Leben, das sich nicht ausspricht. Der Verstand kann es nicht
ergründen; nur zwei von den drei »Enceintes«, den Umfriedungen der
Seele, kann er überwinden: an der dritten, jenseits deren das göttliche
Leben der Mystik sich abspielt, wo im Dunkel das »principe inconnu«,
die »lois inexplicables et profondes« walten, scheitert er. Hier vorzu-
dringen vermag nur die Intuition, die aus sich selbst ihr Licht zieht,
und nur Begnadeten und Reinen ist sie verliehen. Diese nur dringen
bis in die Tiefen, sie nur empfinden, dass es Beziehungen gibt von
Seele zu Seele, »Zeichen einer Seele, die unsichtbar eine andere grüsst«.
Mensch steht neben Mensch im innersten Wesen; wie Schleier fallen
in den Tiefen die äusserlichen Unterschiede der Existenzen. Hier,
wohin kein Lärm des äusseren Lebens mehr dringt, stehen Fürst und
Bettler einander gleich; auf die Schönheit und den Reichthum der
Seele kommt es an. Daher die Benennung: »Trésor des Humbles«;
eine Art von mystischem Socialismus wird begründet. Hoch über dem
Leben umschlingen sich die Seelen in einer Sphäre, da wir uns Alle
kennen, die wir, verkannte Götter, hier unten wandeln. »Wir kennen
uns in Gegenden, von denen wir nicht wissen, und wir haben ein ge-
meinsames Vaterland, zu dem wir gehen, wo wir einander wieder-
finden, und aus dem wir sonder Schmerzen zurückkehren.« Und hoch
wiederum über dem Leben der Seelen, mit leitender Hand in dieses
eingreifend und in seinem Dasein nur aus seinen Wirkungen erkennt-
lich, thront das Unendliche, das Schicksal, Gott. Gefühl ist Alles,
Name ist Schall und Rauch. »Es gibt eine verborgene Wahrheit, die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 724, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0724.html)