Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 723
Text
stehung feiert. Und sie danken es ihm, dass sein Wort der ringenden
die Schwingen löst. Ein Belgier ist dieser Einsame. — Sein Name ist
Maurice Maeterlinck.
Tiefsten Räthseln des Seins zugewandt, ist Maeterlinck — eine
faustische Natur. Dichter und Denker, besser Dichter und Grübler,
sind unzertrennlich in ihm — einer findet im andern erst die rechte
Beleuchtung. Ausstrahlung einer prägnanten Weltanschauung, so stellt
seine Poesie sich dar; eine muss kennen, wer die andere verstehen
will. Im »Trésor des Humbles«, dieser Vereinigung philosophischer
Essays, bietet Maeterlinck sein Weltbild dar. Ein höchst merkwürdiges
und interessantes Buch! Hinter dem purpurnen Vorhang des Aller-
heiligsten hervor klingen orphische Räthselworte, mit Orakelstimme
gesprochen, unendlich stille Güte, müde Melancholie, verwundene Leiden
zittern im dunklen Klang dieser Stimme, die mit seltsamem Zauber
das Gemüth in seinen Bann schlägt. Was sie uns sagt, fern bleibt es
dem Verstande, fern aller Logik Kettenschlüssen; Beichten sind es von
Seele zu Seele — Schimmer einer dämmernden Schönheit liegen über
ihnen. Abgründige, nie geschaute Tiefen des Lebens entschleiern sich
fern im matten Licht dieser Worte. Unsagbares wird gesagt, Unsicht-
bares in Bilder gewandelt, dem Auge vorgeführt. Es ist das Buch
Eines, dessen weltfremde Augen sich ganz nach innen gekehrt haben,
der, in sich versunken und von ungeahnter Pracht geblendet, in Ver-
zückung stammelt, was er in ahnendem Empfinden gesehen. Seelen-
anbeter ist Maeterlinck, reiner und bewusster Mystiker.
Uralt, weil tief in der menschlichen Natur begründet, sind die
Bestrebungen, das dem Verstande sich entziehende, geheimnissvolle
Unendliche, das Absolute, Gott in mystischer Anschauung zu umfassen.
Wie ein rother Faden — wohl zeitweise zurücktretend, aber nie inter-
mittirend — zieht sich die Mystik parallel dem gigantischen Ringen
des Verstandes um ein Weltbild durch die Jahrhunderte menschlicher
Geistesentwicklung: von Indien herüber nach Egypten und Persien, von
Plato zu Plotin und Philo, von Dionysius Areopagita zu den Kirchen-
vätern. Sie beherrscht das ganze katholische Mittelalter, Wolfram ist
ihr geweihter Poet. Mit Malebranche und Pascal tritt sie in die neu-
zeitliche Entwicklung ein, in Jacob Böhme zeigt sie sich heimisch im
Schoss des Volkes. Sie schlummert im achtzehnten Jahrhundert, dieser
todten Zeit eines flachen Rationalismus, die deutsche Classik auf ihrem
Höhepunkte verschmäht sie — aber mit dem Aufblühen der blauen
Blume blüht auch sie empor; der alternde Goethe wandelt gern in ihren
Zaubergängen, und in ihren Mutterarmen entschläft die müde gewor-
dene Romantik. Schelling ist ihr Philosoph, Novalis ihre holdseligste
Blüthe. In den Zeiten, da Seele und Kunst nach Glanz und Kampfeslärm
sich auf sich selbst besinnen, spricht sie das erlösende Wort. Wir
finden sie in der Gegenwart als stetig anschwellende, künstlerische Strö-
mung, reagirend gegen einen überlebten Naturalismus. Maeterlinck
kennt die gesammte Literatur der Mystik; ihre Schriften sind ihm
»die reinsten Diamanten im wundervollen Kronschatz der Menschheit«.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 723, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0723.html)