Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 721
Text
Was aber hatte sie von der Liebe und von der Eitelkeit jemals gewusst,
welche die Welt erfüllen? In ihrer Seele blühte nichts, das complicirter
wäre, als was im Innenhof des Schwesternheims zu sehen, diesem un-
regelmässigen Viereck, das eine von schmalen Pfaden durchschnittene
Wiese überzieht, worin gleich Osterpalmen lange, schwächliche Pappel-
bäume aufragen.
Ihre letzten Altweiberwünsche waren, dass man sie den Ihren zu
Füssen betten möge, und das überraschte Niemand, denn man achtete
Jene Gottseligen gleich. Sie wollte auch, dass man sie in Erz bilde
und ihnen zu Füssen auf dem Grabmal an den Ort stelle, wo
man gewöhnlich den treuen Hund hinsetzt. Allein diese Demuth schien
übertrieben und dem Familiensinn entgegen; so sieht man sie nun
auch in der Kirche alle Drei als Ebenbürtige nebeneinander unter-
gebracht, jedes von ihnen die Banderole in der Hand, darauf die
frommen Worte zu lesen, die sie gewählt hatte: »Martha, Martha, du
hast viele Sorge und Mühe — Maria aber hat das gute Theil erwählet.«
Ich aber protestire gegen diese Nichtbeachtung ihres berechtigten
Wunsches, ich widersetze mich dieser beleidigenden Gleichheit, in die
man sie gegen ihren Willen zu der Anderen erhoben! Und wenn alle
Welt Lobpreisungen erhebt über die armseligen Primitiven, über alle
Memlings und alle hindämmernden Tugenden, so will ich die italienische
Pracht lobpreisen, die Leidenschaft, die nicht schlummert, die Leiden-
schaft, die auch die Geberde der Leidenschaft hat, die handelnde
Leidenschaft!
Ah, wenn es auf mich ankäme, so sollte jene, die zur Dienerin
geboren war, in alle Ewigkeit zu den Füssen ihrer Herren ruhen. Gott
hätte eine Seele nicht in Flandern geschaffen, aus welcher er eine
Venetianerin hätte machen können! Mag sich die kleine Flamänderin
damit begnügen, geschätzt zu werden! Wir lieben und ehren nur die
theure Redemptoristin, und wenn mich etwas in einem Schwesternheim
bewegt, so ist es das, dass ich mich von dem Hintergrunde der Mittel-
mässigkeit mit doppeltem Feuer den Herrlichkeiten einer zärtlichen
und prangenden Leidenschaft zuwende.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 721, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0721.html)