Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 720
Text
Canäle gesetzt hat, in Venedig leidenschaftliche Frauen darüber hin-
gegossen ruhen.
Sie Beide liebten es, wenn die Nacht mit ihren Schatten die allzu
kleinlichen, zierlichen Einzelheiten der flandrischen Kunst überhüllte
und nur das herrische Aufstreben der Architekturmassen übrig liess.
Auf der grossen »Place des Halles«, wenn die Abenddämmerung
den einfacher gewordenen Glockenthurm in eine edle florentinische
Citadelle umwandelte, da gedachte sie der Männer, welche dorten
wuchtig-harte, ihnen gemässe Paläste bewohnten und welche sie zuerst in
ihre jungen Arme gepresst hatten, und auch er erinnerte sich, dass dort
auf den breiten Fliesen der toscanischen Strassen dunkel unnennbare
Dinge seine Seele leidenschaftlich bewegt hatten.
So konnten sie denn nicht ohne eine schmerzliche Trunkenheit
ihrer italienischen Tage denken, und das nicht eben, weil jene Zeit,
genau genommen, den gemächlichen Spaziergängen vorzuziehen gewesen
wäre, die sie jetzt miteinander im feuchten Hauch der Nordsee machten,
oder den Abenden, welche sie hinter den Fensterscheiben der Rue des
Oies mit ihren metallischen Reflexen zubrachten. Aber es lag in ihrem
Charakter, dass sie das Mittelmässige von sich wiesen, während die
Flamänderin sich damit zufrieden gab, wenn sie ihnen ein gutes Mahl
bereitet oder das Haus wohl durchwärmt hatte.
Philippe starb an einer Herzkrankheit, und seine zwei Frauen,
wie man sie in Brügge nannte, riefen bei Allen wahres Herzleid hervor.
Allein obgleich ihm seine Ehefrau ein grosses Leidwesen weihte, so
reichte ihr Schmerz doch nicht an das Gefühl der Bekehrten heran.
Sie verlor denjenigen, welcher sie die Wahrheit hatte kennen gelehrt.
Diese schöne Person trat bei den Redemptoristinnen ein, welche
das Volk die rothen Schwestern nennt, weil sie mit Hemden und
Strümpfen aus rother Seide bekleidet sind. Ja, eben weil sie Busse
thun wollte, verurtheilte sie sich dazu, um die Lüste zu sühnen, die
sie ehemals ausserhalb der Arme ihres theueren Todten genossen, ihren
schönen Leib in Seide zu hüllen; bei jedem ihrer Schritte mahnte sie
das Rauschen der Seide an ihre furchtbaren Sünden.
Man sagt, sie habe als Erste sterben wollen, um noch einige
Augenblicke mit ihm allein im Grabe zu ruhen.
Die andere Frau lebte noch sehr lange in dem Schwesternhause,
wohin sie sich zurückgezogen hatte. Ich bin dahin gegangen, ihrer aller
Andenken aufzusuchen. Nichts könnte so gut wie das feucht-sanfte
Wort »Schwesternheim« das Bild hervorrufen von jenen Wassern, welche
Algen mit sich schleifen, jenen zerzausten Weidenbäumen, jenem lau-
warmen Sonnenschein, der den Farbton der Ziegelmauern mildert, von
jenem leichten Hauch des Meeres, von jenem silbernen Glocken-
gebimmel und der Traurigkeit dieser Umfriedung, innerhalb welcher
sie ihr bescheidenes Leben fortsetzte, das immer nur ein halbes Leben
gewesen war.
Ueber diese niederen Häuser dringt nichts zu dem verödeten
Platze, weder die Laute der Wollust, noch der Lärm der Meinungen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 720, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0720.html)