Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 719

Die zwei Frauen des Bürgers von Brügge (Barrès, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 719

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DIE ZWEI FRAUEN DES BÜRGERS VON BRÜGGE. 719

»Ich weiss nicht, wie das kommen mag, mein Freund, aber Ihr,
der bisweilen so hart und, ich kann es Euch wohl sagen, ein wenig
grobgeartet seid, versteht manch einmal so sehr zarte Dinge zu finden,
dass Niemand Euch gleichkommt. Und seid nur dessen gewiss, dass
Niemand auf der Welt für mich etwas gilt denn Ihr.« Und sie um-
armten einander, weniger als zwei Liebende, denn wie Schwester und
Bruder, die sich von einer Wesenheit fühlen, so sehr, dass eines für
das andere unschwer zu sterben vermöchte, jedes davon überzeugt, dass
sein eigentliches Leben nicht in ihm, sondern im Andern sei.



Doch kamen sie endlich an das Haus des Flamänders, wo seine
Ehefrau aufrichtig über die Heimkehr des Flüchtlings erfreut war.
Obwohl er nun, da er dieses Vertrauen sah, über das Unrecht bewegt
war, das er ihr zugefügt hatte, so empfand er doch grausam schmerzlich,
was seine schöne Freundin fühlen musste, die ihnen, einige Schritte
entfernt, zusah. Er führte eine der andern vor: »Meine liebe Frau,
umarmt diese Fremde, denn sie ist das grösste Glück meines Lebens.
Es ist eine Ungläubige, die ich auf meinem Kreuzzuge bekehrt habe
und die ich mit mir bringe, damit sie nach mir nicht zu ihren Götzen
zurückkehre.«

Da verbreitete sich in Brügge die Kunde, dass der edle Pilger
eine Ungläubige bekehrt und sie heimgebracht habe, und das Volk
richtete ihm ein Festmahl aus, wo er den Ehrensitz einnahm und zur
Rechten die Fremde, zur Linken seine Ehefrau sitzen hatte. Er empfand
viel Freude, als er sah, wie man die strahlende Schönheit seiner Geliebten
bewunderte; allein jedes von ihnen war doch in Gedanken versunken,
was verursachte, dass alle Welt sie zwei Heiligen gleich achtete.

Als die Stunde geschlagen hatte, da man der Ruhe pflegen sollte,
sagte seine Ehefrau, welche durch das Weinen um ihn während seiner
Pilgerfahrt viel von ihrer Fröhlichkeit eingebüsst hatte: »Ich bin recht
welk geworden und recht sehr der Freude entwöhnt, mein Gebieter;
es soll nicht also sein, dass Ihr mein Bette heimsucht, aber ich will
die Magd jener sein, der Ihr das Paradies geschenkt habt, und ich will
sie für die Nacht zu mir nehmen.«

Chlorinde war von der Vorstellung entsetzt, allein ruhen zu müssen,
während Jener, den sie anbetete, in den Armen seiner Gattin sein würde;
so nahm sie diese Lösung mit unendlichem Glücksgefühl entgegen. Er
half einer jeden, es sich bequem zu machen.

So lebten sie alle Drei dahin, und oftmals in dem langen flandri-
schen Winter, da die Kälte sehr strenge war, kam eine oder die andere
seiner Frauen, ihm Gesellschaft zu leisten

Brügge ist eine von Bäumen umschleierte Stadt, die sich in
Canälen spiegelt und über die ungehemmt der frische Nordwind sowie
das Geläute ihrer Glocken dahinstreicht. Wenn nun die Liebenden zu-
sahen, wie lautlose Schwäne an die Ufermauern streiften, da wurden
sie daran erinnert, dass, wenn Brügge diese eisigen Schwäne auf seine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 719, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0719.html)