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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 904

Text

904 NOTIZEN.

Kampf der Religionen« sind die
Antagonistenrollen an Judas und
Jesus vertheilt. Hier die herrliche,
reine Erscheinung des Erlöser-
Heilands, dort des düsteren, harten
Judas! Verräthergestalt. Das Fatum
treibt sie einander entgegen, sie
gehen ein Stück des Weges zu-
sammen — und Jesus wird ver-
rathen, von ihm, dem Jünger, um
elendes Geld! Silberlinge für das
Leben des edelsten der Männer
Judas ist gerichtet für immer.

Nein, nicht für immer! Jetzt, wo
man der Seele dunkle Tiefen zu
erforschen beginnt, ist man auf
unentdecktes Gebiet gestossen, das
früher niemand noch gekannt: dort
hausen Geister, die des Menschen
letztes Wollen lenken, die ihnen
straffe Zügel auflegen, wenn sie
frei sein möchten, sie hohnlachend
in die Weite jagen, wenn schutz-
bedürftig nach dem Leiter die fle-
hende Hand sich ausstreckt. So
steht auch Judas bei Hedberg ganz
unter dem Einfluss eines fremden,
transcendentalen Wollens. Tout est
effrayant, lorsqu’on y songe: Nie
ist er seines Wollens eigener Herr.
In dem Buche, das man als psy-
chologische Apologie des Iska-
riothen bezeichnen könnte, recht-
fertigt ihn der Dichter mit kühnem,
schützendem Worte: für ihn ist
der finstere Judas ein durch die
Geschichte schuldlos Verurtheilter,
dessen er sich mit wildem Eifer
annimmt. Hedberg schildert einen

andern Judas, als jener elende
Verräther ist, eine Gestalt, die
von der edelsten Liebe für Jesus
beseelt wird, einen Menschen, der
unter einem glühenden Hasse gegen
die andern Jünger leidet, weil er
mit ihnen die Liebe für ihn, den
Meister theilen muss, statt sie ganz
allein zu besitzen. Der Roman,
der in derselben Zeit, im selben
Lande handelt wie Wallace’s »Ben
Hur«, steht, was die Conception
betrifft, mit diesem sonst gewiss
wertvollen Buch im tiefsten Wider-
spruche: dort das Schwergewicht
auf die culturellen Verhältnisse ge-
legt mit Neglegierung der Ȏtats
d’âme«; hier eine psychische Dar-
stellung, die das äussere Milieu
vernachlässigt, um das innere Leben
zu schildern. Bis ins subtilste De-
tail zerlegt Hedberg des Judas’
Psyche, zeigt er, wie der unglück-
liche Mann unter dem Banne einer
Suggestion dem gefürchteten, doch
unentrinnbaren Ziele entgegen rast,
den Tod des geliebtesten Meisters
und Freundes zu verschulden.

Es liegt viel grosse Kunst in
diesem kleinen Werke: wohl werden
gar manche, die »Judas« lesen,
finden, dass es ein zu schweres Buch
sei; jene aber, die feinfühlig sind,
und die die Schilderung von Seelen-
problemen den Dutzendromanen
vorziehen, werden dafür freudig
gestehen, dass es etwas Grosses,
etwas Gewaltiges bedeute.

A. N.



Herausgeber und verantwortlicher Redacteur: Rudolf Strauss.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 904, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0904.html)