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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 10

Text

10 SCHAUKAL.

Schicksal, sie hatte Alles in ihrer Macht, sie herrschte über seine ver-
borgen zum Tag begehrenden Möglichkeiten.

Aber sie hatte nicht den Muth der Unvernunft. Sie hatte nicht
die Kraft einer ungebrochenen wollenden Frohheit. Sie war eine Königin
über gefürchtete Schätze. Sie zagte vor der grossen Entsiegelung. Sie
ahnte den berauschenden starken Sturm des Schönen. Sie zitterte wie
ein Kind vor den süssen Schrecken verschlossener Thüren.

So schritten sie hintereinander gegen die Stühle des Tennis-
platzes.

Sie hätte sich gerne nach ihm umgesehen. Sie wusste, wie er
nach diesem Umblicken mit allen angespannten Fasern einer ge-
hemmten Ungeduld bebte. Sie wusste, wie sie ihn glücklich machen
konnte und erschrecken, wie er roth und mit betenden Augen in ihren
Blick untertauchen würde. Aber sie konnte nicht. Das war ihr Stolz,
ihr Erziehungsstolz, an den sie sich klammerte. Sie war ein Fräulein.
Und ein Fräulein darf das nicht. Ein Fräulein darf nicht sagen: »Ich liebe
dich mehr als Alles in der Welt. Nimm mich und mach’ mit mir, was
du willst. Du weisst ja, dass ich wie ein Garten bin, der nur dich mit
allen Fanfaren seines Blühens ruft.«

Er schlug sich mit hässlichen Erwägungen in der Stille dieses
zögernden Folgens. Auch in ihm hob sich das ergraute kluge Köpfchen
der Vernunft über die dicken, starkädrigen, wohlriechenden Blätter
seiner Zauberhecken.

»Du bist nichst,« wispelte sie. »Und du hast nichts. Und heut-
zutage muss man was sein und was haben.« Er spie dieser eklen ver-
runzelten Vernunft in das kluge magere Antlitz, er hob die schmalen,
abfallenden Schultern wie im Groll über ein entwürdigendes Joch. Und
plötzlich war ein gewaltiges lautes Singen in ihm. »Schön ist die Liebe.
Sei schön und juble. Und geh’ im leichten Tanz mit ungehemmten
freien Gliedern. Und lache, lach’ einmal wie der Sommer lacht in der
Mittagsglut.«

In diesem Augenblicke kam ein Stocken in ihren Schritt. Er
sah, wie sie stehen blieb. Er sah ihren Fersen zu, wie sie noch über-
legten. Und dann stand sie, und ihr weisses gleitendes Kleid hielt an
im leisen Rauschen. Alles in ihm lag wie auf den Knien und lauschte.’
Seine Augen schmerzten ihn vor Erwartung. Und mit einemmale
wandte sie sich. Ihre Arme hingen demüthig aus ihren Kinderschultern.
Aber in ihren Augen, die so blau und leuchtend waren, wie das Glück
der Erfüllung, stand ihre liebliche rosengeschmückte Liebe und lachte
Und er nahm ihre zitternde Hand und sagte: »Mädi.«

Sie schwieg. Aber von ihr ging der Frühling aus in die Welt.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 10, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0010.html)