Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 11
Text
Von W. Henckel (München).
Leo Tolstoj veröffentlichte kürzlich in einer Petersburger Zeitung
einen Brief folgenden Inhalts: »Ich ersuche die Redaction dringend um
den Abdruck des beifolgenden Artikels über die Duchoborzen. Abge-
sehen von der wahrheitsgetreuen Schilderung einer hervorragenden Er-
scheinung aus dem russischen Volksleben, hat dieses Schriftstück auch
eine sehr grosse praktische Bedeutung, denn es gibt dem Publicum
die Möglichkeit, Tausenden zu helfen, die ihres Glaubens wegen leiden
und in Lebensgefahr schweben. Bitte, drucken Sie den Artikel. Jasnaja
Poljana. Leo Tolstoj.«
Bereits im vorigen Jahre erschien in London eine Broschüre in
russischer Sprache mit einem Vor- und Nachwort von Leo Tolstoj, die
den nämlichen Gegenstand noch ausführlicher behandelt. In Deutsch-
land scheint man dieser Angelegenheit nur wenig Beachtung geschenkt
zu haben; wir erinnern uns nicht, nennenswerthe Artikel darüber ge-
lesen zu haben. Wahrscheinlich sucht man dieses für die russische Re-
gierung so beschämende Ereigniss zu vertuschen.
Wenn Leo Tolstoj sich einer Sache so eifrig annimmt, so ist
unbedingt vorauszusetzen, dass es sich um eine hochwichtige Angelegen-
heit handelt, die der Beachtung grösserer Kreise würdig ist. Wir wollen
es daher versuchen, den Inhalt der von Tolstoj so dringend empfohlenen
Schriftstücke hier zu skizziren. Sein Schreiben an den Londoner Ver-
leger lautet folgendermassen: »Hiemit sende ich Ihnen eine Mit-
theilung über die Verfolgungen der kaukasischen Duchoborzen. Es gibt
nur ein Mittel, um sowohl den Verfolgten zu helfen, wie besonders
auch den Verfolgern, die nicht wissen, was sie thun. Es ist das die
Oeffentlichkeit, die Unterbreitung dieser Angelegenheit dem Gericht
der öffentlichen Meinung, die, indem sie den Verfolgern ihre Miss-
billigung und den Verfolgten ihr Mitgefühl ausdrückt, die Ersteren
von den häufig nur aus Unverstand und Unwissenheit herrührenden
Grausamkeiten zurückhält und die Letzteren ermuntert, ihren Muth
stählt und ihnen Trost in ihren Leiden spendet. Die russische Censur
wird diesen Artikel nicht durchlassen, ich wende mich deshalb an Sie
mit der Bitte, ihn zu veröffentlichen. Die Schilderung rührt von einem
meiner Freunde her, welcher über die vorgefallenen Ereignisse genaue
Berichte an Ort und Stelle sammelte; man kann deshalb seinen Mit-
theilungen durchaus Glauben schenken. Dass die hier mitgetheilten
Nachrichten nur von einer Seite stammen, der der Verfolgten, und
dass nicht auch die andere Partei, die der Verfolger, befragt wurde,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 11, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0011.html)