Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 12

Graf Leo Tolstoi und die Duchoborzen (Henckel, W.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 12

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12 HENCKEL.

vermindert nicht die Glaubwürdigkeit dieser Mittheilungen. Den Ver-
folgten lag nichts daran, das, was sie thaten, zu verhehlen: sie ver-
kündigen es der ganzen Welt; die Verfolger hingegen müssen sich der
Thaten, die sie gegen die Verfolgten begingen, schämen, und sie
werden sie daher mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu ver-
heimlichen suchen. Sollten aber in den Berichten der Duchoborzen
vielleicht auch Uebertreibungen vorgekommen sein, so haben wir diese,
sobald sie uns als solche erschienen, sorgfältig ausgemerzt. Die Haupt-
sache, welche hier dargelegt ist, nämlich die, dass die Duchoborzen
an verschiedenen Orten mehrfach grausam misshandelt wurden, dass
der grösste Theil von ihnen in die Gefängnisse geworfen und dass
mehr als 450 Familien vollständig zugrunde gerichtet und aus ihren
Wohnungen nur deshalb vertrieben wurden, weil sie ihren religösen
Anschauungen nicht entgegen handeln wollten, ist authentisch und
keinem Zweifel unterworfen. Schon deshalb unterliegen die Thatsachen
keinem Zweifel, weil sie in vielen russischen Zeitungen mitgetheilt
waren und seitens der Regierung keine Widerlegung fanden. Leo
Tolstoj

Aus dem Inhalt der von Tolstoj empfohlenen und von seinem
Freunde herrührenden Mittheilungen heben wir Folgendes hervor:

Von den Verfolgungen der Duchoborzen im Kaukasus (es leben
ihrer dort etwa 20.000) wurde so viel gesprochen, dass ich mich ent-
schloss, um die Wahrheit zu ergründen, an Ort und Stelle Er-
kundigungen einzuziehen. Bevor ich aber das, was ich erfuhr, erzähle,
will ich von der Entstehung, dem Glauben und der Organisation dieser
Secte berichten. Sie entstand in der Mitte des vorigen Jahrhunderts,
und die Anhänger derselben wurden auf Befehl des Kaisers Nicolaus I.
in den Vierzigerjahren dieses Jahrhunderts nach Transkaukasien deportirt,
und zwar in eine feuchte, gebirgige und unfruchtbare Gegend. Die
Grundlehren der Duchoborzen bestehen in Folgendem: Der historische
Christus ist in ihren Augen nur das Bild dessen, was in der Seele
eines jeden Duchoborzen die göttliche Vernunft oder das
Wort
vollführt. An die Menschwerdung des Herrn, an seine Thaten,
Lehren und Leiden glauben sie, fassen dies aber im geistigen Sinne
auf. Da sie Gott im Geiste anbeten, behaupten sie, dass die Kirchen
und Alles, was in ihnen vorgeht, gar keine Bedeutung haben und keinen
Nutzen bringen. Sie bedürfen daher auch nicht der kirchlichen Sacramente
und Gebräuche und ebensowenig der Heiligenbilder. Die Heiligen
werden geehrt, jedoch nicht angebetet. Der Duchoborze betet nicht
um das Seelenheil Anderer, denn Jeder betet nur für sich, und nur
Gott wird angebetet. »Dem Alten und Neuen Testament entnehmen
wir nur das Nützliche, nur die sittlichen Lehren,« sagen die Ducho-
borzen. Sonst wird der Heiligen Schrift nur geringe Bedeutung bei-
gelegt. Ihrer Glaubenslehre liegen Ueberlieferungen zugrunde, die sie
»das Lebensbuch« nennen. Die sittlichen Begriffe der Duchoborzen
sind folgende: Alle Menschen sind ihrem Wesen nach gleich; äusseren
Auszeichnungen ist keine Bedeutung beizulegen; sie bedürfen weder

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 12, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0012.html)