Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 19

Randglossen über London (Daudet, Madame Alphonse)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 19

Text

RANDGLOSSEN ÜBER LONDON.
Von Madame Alphonse Daudet (Paris).
Autorisirte Uebersetzung aus dem Französischen von L. Frank.

Der Zoologische Garten — der »Zoo«, wie man ihn hier nennt —
an einem schönen Maivormittag besehen, erinnert im Geiste an den
Uranfang der Welt; die Thiere haben nicht diese dumpfe und herz-
zerreissende Luft, dieses Aussehen von Gefangenen, das man ihnen bei
uns anmerkt. Dies kommt von dem grossen ihnen gewährten Spielraum
und davon, dass man versucht, um das in den Käfig gesteckte wilde
Thier etwas von den Anpflanzungen der wirklichen Natur zu erhalten.
So dehnen sich die Löwen auf Felsen aus, welche der Einwirkung der
Sonne ausgesetzt sind und sie festhalten, und die ganz grossen Vögel
haben ihren Flugplatz um die Stiege, welche ihnen Ruhe gewährt. An
Stelle dieses Haufens grauer Decken, in denen sie sich im Pariser
Botanischen Garten bergen, bewegen sich sogar die Schlangen in einer
einigermassen erträglichen Temperatur oder in Wasserbecken, die von
geheizten Röhren durchzogen sind. Hieraus folgt mehr Bewegungs-
freiheit und Wahrheit in ihren Stellungen, mehr Reichthum in der
Haarfarbe oder dem Gefieder und die Möglichkeit, ungeheuere Ei-
dechsen oder Schildkröten, sogar seltsame Bewohner des Meeresgrundes
besser erkennen zu lassen; und ich sehe wieder ein träges Schattenbild,
im Hinterhalt gelegen, bedeckt mit Schuppen, mit dem fresslustigen
Rüssel, dem starren und glasigen Blick, der zappelnden, als Falle aus-
gestreckten Zunge. Dies gleicht einem schlechten Traum nach dem
Lesen einer Schiffbruchsgeschichte. Was soll ich erst von einem kleinen
Treibhaus erzählen, bestimmt zum Ausschlüpfen der Schmetterlinge,
wo jede Art in einem durchsichtigen Glaskasten im Begriffe steht, aus
Puppen auszukriechen, die das Aussehen von dicken Blumenknospen
haben, mit Flügeln, ähnlich Blumenblättern, die im Anfange mehrmals
gefaltet und zerknittet sind, darauf sich öffnen, sich entfalten und an
der Luft ihre schwefelgelbe, flockige, mit seltsamen Augen und Eigen-
thümlichkeiten, wie aus Zauberbüchern geschmückte Seide aufgehen
lassen.

Bei uns ist nichts mit dem Britischen Museum zu Vergleichendes.
Was es von unserem Louvre unterscheidet, das ist eine mehr in die
Augen fallende, besser geordnete Eintheilung; das ist die moderne,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 19, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0019.html)