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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 6

Text

IM CAFÉ.
Von Arnold Garde.

Draussen ging ein dichter Abendregen nieder. Nur wenige Gäste.
Hinten am Buffet ein paar Lichter. In rosa Seide lag die brünette
Buffetière auf einen Stuhl hingegossen und träumte, dem dolce far
niente hingegeben.

In einer Ecke — es war nahezu dunkel — sassen zwei Künstler.

Der eine, der beständig das Wort führte, war jung und befand
sich heute in miserabelster Stimmung. Er sprach, wie aus der Vogel-
perspective, über Gott, Welt und Menschen, immer von einem sou-
veränen Standpunkt, und kam dabei vom Hundertsten ins Tausendste.

Der alte Weisskopf neben ihm sprach fast gar nicht, nickte
hin und wieder beifällig auf die heftigen Demonstrationen seines jugend-
lichen Gesellschafters, warf nur manchmal eine kurze, bissige, auf-
stachelnde Bemerkung hin und kaute beständig an einem längst aus-
gegangenen Cigarrenstummel.

Der Junge phantasirte:

Ein eigenartiges Land, diese Erde. Hier Rosen und dort Schier-
ling, und beide sind für den Menschen gesäet. Und wenn er schon auf
den Sterbekissen liegt, summt ihm noch der Lärm der Welt im Ohre,
als wenn er von der Kirmes heimgekehrt sei, und bereitet ihm den
bittersten Trennungsschmerz, oder — er verwünscht ihn und sagt sich:
Gottlob, bald hör’ ich den Klimbim nicht mehr.

Ich erinnere mich eines jungen Mannes in Hamburg, der oben
im fünften Stock in einer kleinen armseligen Kammer seine letzte
Kraft verströmen fühlte. Da fing eine Orgel auf der Strasse an zu
spielen, und die bestrickende, selige Melodie eines Walzers, den nur
ein Verliebter ersonnen haben konnte, klang durch die laue Abendluft
hinauf, in das Fenster zu dem armen Teufel und schlang ihre Schmeichel-
arme um das zitternde verathmende Menschenherz, das sich schon mit
dem Leben abgefunden hatte.

Es war eine Sünde.

Wie ein Rausch kam es über den Sterbenden, ein unsägliches
Heimweh stieg in ihm auf, eine tolle Sehnsucht nach Allem, was ihm
auf der Erde des Genusses werth schien, nach Liebesabenteuern in
dunklen Gärten und blauen Sommernächten, nach Tanz unter strahlen-
den Kerzen, nach rothen Mädchenlippen und blitzenden, lachenden
Mädchenaugen.

Er flüsterte noch: Mein Gott, mein Gott, ich will noch nicht,
noch nicht sterben!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 6, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0006.html)